Mehr als nur Gebrüder Grimm ...: Es war einmal ein Märchenforscher
Der Göttinger Erzählforscher Hans-Jörg Uther hat vierzig Jahre an der „Enzyklopädie des Märchens“ mitgearbeitet.
GÖTTINGEN taz | Im sechsten Stock eines Göttinger Unigebäudes betritt der Germanist und Erzählforscher Hans-Jörg Uther einen Seminarraum und sieht viele graue Haarschöpfe. Es ist eine Veranstaltung der Universität des dritten Lebensalters, einem Angebot für Menschen, die ihr Berufsleben hinter sich haben und wieder Lust am Lernen verspüren.
„Einen schönen, guten...“, beginnt Hans-Jörg Uther und bemerkt, dass in der letzten Reihe noch geredet wird. Hier ist das nicht anders als im Erstseminar. Hans-Jörg Uther hält also inne, die anderen Teilnehmer lachen und die Hinterbänkler verstummen. „...Abend!“, beendet er schließlich die Begrüßung, dann doziert er die erste halbe Stunde lang im Stehen. Und rast in Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte der Erzählforschung.
Wer etwas über Märchen wissen will, der ist bei Hans-Jörg Uther richtig aufgehoben. Der 70-Jährige gilt als Experte für die, wie Germanisten sagen, „einfachen Formen“, das sind beispielsweise Sagen, Märchen und Schwänke. Im Seminarraum setzt er sich nun und taucht in das eigentliche Thema der Sitzung ein: „Der gestiefelte Kater“. Es ist eines seiner Lieblingsmärchen. Der gestiefelte Kater ist eine uralte Geschichte, die in verschiedenen Variationen immer wieder neu erzählt und 1812 dann schließlich von den Brüdern Grimm in die erste Auflage ihrer Hausmärchen aufgenommen wurde.
Sie ist heute ungebrochen populär. Hans-Jörg Uther glaubt, dass Märchen sich so lange halten, weil in ihnen mit neutralen Ausdrücken hantiert wird: „Es heißt immer nur: ,Die Prinzessin, sie war schön‘ und ,die Prinzessin, sie war gut‘. Da kann sich dann jeder Leser selbst überlegen, wie diese Figur aussieht.“ Und Märchen enthalten „Dinge, die wir alle für uns in Anspruch nehmen können: Werte, Normen und Vorstellungen vom Leben“. Deswegen hätten die alten Geschichten uns auch heute noch etwas zu sagen. So lehrten sie, „dass man aufrecht durchs Leben gehen soll, ohne Lügen und Betrug, dass man die Wahrheit sagen soll, dass man nicht kampflos aufgeben soll, dass Menschen, die Probleme haben im Leben, eine zweite Chance verdient haben“, sagt Uther.
Damit das nicht ganz so eintönig werde, würden diese Grundmuster immer wieder mit schwankhaften Geschichten flankiert, meint er. Eine solche ist „der gestiefelte Kater“. „Die besten bestehen eben daraus, dass die List dort siegt, die List und der Betrug“, sagt Uther. „Aber man ergötzt sich an den Abenteuern, denen letztlich ein realistisches Weltbild zugrunde liegt.“
Im „Gestiefelten Kater“ erbt der jüngste von drei Brüdern einen Kater, „weiter blieb nichts für ihn übrig“. Doch der Kater hat es in sich. Er spricht, lügt, betrügt, mordet und natürlich hat er eine Schwäche für Stiefel. Am Ende sorgt er so dafür, dass aus dem armen jüngsten Bruder ein reicher König wird.
„Ein glücklicher Zufall“
Das ist die Mechanik, nach denen die meisten Märchen funktionieren: „Mangel – Mangel beseitigt“, aus Arm wird Reich, aus unglücklich glücklich. Der Philologe Wladimir Propp hat das schon 1928 so publiziert und für Erzählforscher ist es bis heute gültig. Zum Teil ist Mangel auch der Ausgangspunkt für Hans-Jörg Uthers Karriere: Gegen Ende seines Germanistikstudiums brauchte er Geld, „für meine Familie“, wie er sagt. Weil ihm der Kater fehlte, suchte er einen Job.
Es sei für ihn logisch gewesen, bei den Göttinger Erzählforschern anzuheuern, sagt er. „Ich habe schon als junger Mensch sehr viel gelesen.“ Dazu gehörte Karl May, aber Uther interessierte sich ebenso für Märchen und Wundergeschichten. Dass er eine Stelle bei den Göttinger Märchenforschern bekam, sei dann „ein glücklicher Zufall“ gewesen, sagt er. Mittlerweile ist Hans-Jörg Uther im Ruhestand – eigentlich. Aber es ist ihm immer noch wichtig, sein Wissen weiterzugeben. Deswegen hält er weiterhin Vorträge und macht Veranstaltungen wie die für die Universität des dritten Lebensalters.
Uther hat erst spät studiert, eigentlich wollte der ehemalige Zeitsoldat Lehrer werden und hatte bereits Frau und Kind. Er arbeitete zuerst als wissenschaftliche Hilfskraft, wühlte sich durch die Sammlung des Göttinger Märchenarchivs und klassifizierte Texte. Dabei war er so gut, dass er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter angeboten bekam – Mangel beseitigt.
Jedes anständige Märchen wäre nun zu Ende. Aber Hans-Jörg Uthers Geschichte nahm erst richtig Fahrt auf. Das Märchenarchiv ist heute eines der größten weltweit und vor allem für seine Sammlung internationaler Märchen bekannt. Und es ist der Ausgangspunkt für die „Enzyklopädie des Märchens“, deren Mitherausgeber Hans-Jörg Uther ist, und deren langjähriger Redakteur er war.
Die „Enzyklopädie des Märchens“ ist ein Mammutwerk, das 200 Jahre Märchenforschung international auf den Punkt bringen will. Laut Eigenbeschreibung sollen so Erzählungen aus der ganzen Welt und ihre sozialen, historischen, psychischen und religiösen Hintergründe vergleichbar werden. Ihr erster Band wurde bereits in den 1970er Jahren herausgegeben, der vierzehnte mit dem Buchstaben Z wie Zypern erschien Ende vergangenen Jahres und der letzte, ein Registerband, soll in diesem Jahr folgen.
Damit geht ein Großprojekt der Göttinger Akademie der Wissenschaften zu Ende, das die Märchenforschung so noch nie gesehen hat und vermutlich auch nicht wieder sehen wird. In ihren 15 Bänden gibt es Stichwörter zu Ländern, Methoden, Forschern und natürlich Märchen und ihren erzählerischen Motiven.
Hans-Jörg Uther hat mit ihr sein „gesamtes wissenschaftliches Leben verbracht“ und er ist der einzige, der seit den Anfängen der Enzyklopädie dabei ist. Damit ist er einer von über 800 Autoren aus insgesamt 40 Ländern, die über die Jahre an dem Werk geschrieben haben. Mit 137 von insgesamt 4.000 Artikeln hat Hans-Jörg Uther die meisten Stichworte beigesteuert.
Begründet wurde das Nachschlagewerk von Kurt Ranke, der auch die für Erzählforscher bedeutende Zeitschrift Fabula aus der Taufe hob. Der Volkskundler Ranke war einer der wichtigsten Protagonisten der historisch-vergleichenden Erzählforschung im Nachkriegsdeutschland. Er war aber auch bereits im Nationalsozialismus ein bekannter Vertreter seiner Zunft gewesen, die damals vielfach den wissenschaftlichen Anstrich für ideologische Phantastereien von der deutschen Volksseele und dem Germanentum lieferte. Kritisiert wurde Ranke unter anderem, weil er früh in der NSDAP eingetreten und SA-Mitglied war. Er habe „aber nicht der Kontinuität vom germanischen Brauchtum das Wort geredet“, verteidigt ihn Hans-Jörg Uther.
Nach dem Krieg hatte Ranke ein paar Jahre Berufsverbot, bis er in Kiel wieder an der Universität arbeiten konnte und schließlich in Göttingen einen Lehrstuhl bekam. Bereits in den 1950er Jahren nutzte er internationale Kontakte, um den Grundstock für sein Märchenarchiv und damit für die „Enzyklopädie des Märchens“ zu legen. Seit Anfang der 1980er Jahre ist der Volkskundler Rolf Wilhelm Brednich sein Nachfolger als Hauptherausgeber der Enzyklopädie.
Enzyklopädien ordnen Wissen nach Wichtigkeit und Alphabet. Sie systematisieren es. Ordnen und systematisieren, darin ist Hans-Jörg Uther gut. Er macht es, weil es einen schlichten Zweck hat: „Ein Archiv kann nur existieren, wenn es auch geordnet ist, wenn man nach geraumer Zeit die Dinge auch da wieder findet, wo man sie hereingetan hat“. Das gehöre einfach zum Beruf dazu, sagt er.
Weltweit Standard
Der Forscher hat nicht nur die „Enzyklopädie des Märchens“ mit vorangetrieben. Er hat Standardwerke wie das „Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ geschrieben und den Aarne-Thompson-Index grundlegend überarbeitet. Der ist seit hundert Jahren der Standard in der Erzählforschung, wenn es darum geht, Märchen zu klassifizieren. Seit 2004 heißt er nun Aarne-Thompson-Uther-Index. Weltweit sind alle großen Archive danach geordnet, auch das in Göttingen.
Ob Hans-Jörg Uther mit der Enzyklopädie nun seiner Forschertätigkeit die Krone aufsetzt? Nein, sagt er, und verweist auf die vielen anderen Forschungsprojekte, die ihn beschäftigen. Uther scheint das pragmatisch zu sehen – so pragmatisch, wie die Märchen sind, denen er Jahrzehnte gewidmet hat: Mangel – Mangel beseitigt.
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