: Mehr als ein Opfer
Lügen in Zeiten des Irakkrieges: die beeindruckende Doku-Fiction„David Kelly – Der Waffeninspekteur“ (20.40 Uhr, Arte)
Von HANNAH PILARCZYK
„Die Wahrheit, Mr. Kelly, wird Sie umbringen.“ Mit all dem Wissen über die Affäre um die BBC, die britische Regierung und das Dossier, nach dem der Irak innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einsetzen könne, meint man, dieser Satz aus dem Anfang von Peter Kosminskys Spielfilm nehme sein furchtbares Ende, den Freitod des Waffeninspekteurs David Kelly, vorweg. Nach 106 eindrucksvollen Filmminuten weiß man: Es sind die Lügen, die Kelly umbringen. Vor allem seine eigenen.
Im September 2002 ist der Irakkrieg beschlossene Sache. Der Angriff soll im kommenden Frühjahr, rechtzeitig vor der brüllenden Hitze des irakischen Sommers, erfolgen. Zeit genug für die Verbündeten, US-Präsident George W. Bush und den britischen Premier Tony Blair, die UN von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen – und die Öffentlichkeit. Doch die ist zunehmend skeptisch, schließlich finden internationale Experten, unter ihnen David Kelly, keine Beweise für den vermeintlichen Hauptkriegsgrund, der Irak würde über Massenvernichtungswaffen verfügen.
So unter Druck gesetzt, entschließt sich die britische Regierung zur Herausgabe eines Dossiers. Dessen Kernaussage: Der Irak kann innerhalb von 45 Minuten angreifen. Heute weiß man, dass dies nicht stimmt und vom britischen Geheimdienst auch so nie behauptet wurde. Ein Verdacht drängt sich auf – und 2003 ist BBC-Reporter Andrew Gilligan der Erste, der ihn öffentlich ausspricht: Die Regierung hat die Informationen des Geheimdienstes mutwillig verzerrt, um stärkere Argumente für den Kriegseinsatz zu haben. Als Quelle dient Gilligan David Kelly. Doch was genau der ehemalige UN-Waffeninspekteur dem schludrigen Radiomann erzählt hat, bleibt wohl auf ewig ein Geheimnis. Am 18. Juli 2003 schneidet sich David Kelly die Pulsadern auf.
Keine zwei Jahre später zeigt Arte nun die Ereignisse des Sommers 2003, nacherzählt als Spielfilm in einer Koproduktion mit dem britischen Channel 4. Die zeitliche Nähe legt nahe, dass die Geschichte allein wegen ihrer politischen Brisanz verfilmt wurde. Doch Autor und Regisseur Kosminsky, der bereits mehrfach für seine Bearbeitungen zeitgeschichtlicher Stoffe ausgezeichnet wurde, gelingt es, nicht nur die politische, sondern auch die psychologische Dramatik der Geschichte in einem fesselnden Film einzufangen.
Marc Rylance spielt David Kelly als zurückhaltenden, fast verhärmten Mann, der nur wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zulässt. Er will nicht von den Irakis über ihre Waffenprogramme getäuscht werden, aber er will auch nicht seine Arbeit von der Kriegskoalition instrumentalisiert sehen. Als er sich entschließt, ohne Genehmigung seiner Vorgesetzten im Verteidigungsministerium Journalisten mit Hintergrundinformationen zu versorgen, überschreitet er die Grenze vom neutralen Experten hin zum politischen Akteur.
Auch unter größten Druck von der Regierung gesetzt, die schließlich seinen Namen an die Presse gibt, spielt er nicht mit offenen Karten. Er verstrickt sich in Falschaussagen, die weder der Regierung noch den Journalisten und am allerwenigsten ihm selbst nutzen. Wie einer gehetzt wird, doch die Ecke, in die er gedrängt wird, letztlich selbst wählt – das zeigt Kosminskys Film in düsteren Bildern, die viel von den erschreckenden Wahrheiten rundum den Irakkrieg preisgeben. Vor allem aber von den Lügen.