: Medienmenschenweltler
■ Birger Sellin: Betrachtungen zu Autismus und Authentizität
Im Herbst 1993 sorgte der Berliner Birger Sellin durch sein Buch „ich will kein inmich mehr sein“ für Schlagzeilen. Die „botschaften aus einem autistischen kerker“ bewegten Deutschlands Kulturbetrieb. „ich bin nur eine ohnemichgestalt die aus der dunkelheit der autistenwelt herausgetreten ist um mit menschenweltlern ihrer art kontakt aufzunehmen.“ Durch seine Mutter am Arm gestützt, hatte er sein bewegtes Innenleben per Computer der Außenwelt mitgeteilt. Eine Methode, die als „Facilitated Communication“ (FC) oder auch „gestützte Kommunikation“ bezeichnet wird.
Eindringlich warnte der Autor seine Leser vor Fehleinschätzungen: „ich danke ihnen daß sie es bis zu astreinem schluß geschafft haben meine ausführungen eisern zu lesen sie irren wenn sie denken ich sei eine große persönlichkeit.“
Ob es für die „ohnemichgestalt“ Birger Sellin von Vorteil war, „aus der dunkelheit der autistenwelt herauszutreten“, muß aber bezweifelt werden. Denn die „menschenweltler“ schienen unfähig, in ihrer „art kontakt“ seine Aussagen ernstzunehmen. So als hätten sie sein Buch nie gelesen, schickten sich die Medien„menschenweltler“ an, ihn zu einer großen Persönlichkeit zurechtzuschreiben. Der Spiegel kürte ihn zum „ersten autistischen Dichter der Welt“. Die allgemein für bildungsunfähig gehaltene Gruppe der Autisten hatte ihren mediengerechten Berliner Lyriker mit schwerwiegenden Folgen für alle „ohnemichgestalten“. Vergessen war das aggressive und selbstschädigende Verhalten autistischer Menschen. Da der Autist zur Show wurde, ging der Blick auf den Menschen verloren.
Nachdem dann die unvermeidliche Entdeckung gemacht wurde, daß nicht jede „ohnemichgestalt“ einen Lyriker ausmacht und nur wenige auf einen hochentwickelten Intellekt reduzierbar sind, tauchten „menschenweltler“ aus der „dunkelheit“ der Medien auf und äußerten seltsame Zweifel an der Echtheit von Birger Sellins Texten. Denn das eigentlich banale Wissen, daß sich in den meisten Köpfen kein hochentwickelter Intellekt verbirgt, scheint zwar für Normgestalten, jedoch nicht für autistische zu gelten.
Als ob die noch 1993 vom Spiegel hochgelobte „inmich“-Literatur 1994 plötzlich Wegwerf- Schund sei, falls die Verfasserin wirklich Annemarie Sellin hieße, fragte rhetorisch eine Menschenweltlerin im „Spiegel TV“: „Lyrik oder Lüge?“ Sie berief sich auf „amerikanische Untersuchungen, welche belegen, daß Botschaften von Autisten nicht authentisch sind“.
Die Spiegel-Schreiberin spöttelt: „Birgers Mutter und andere FC-Gläubige lassen sich ihre Hoffnungen durch keinen Test kaputtmachen. Autisten, die schon in vertrauter Umgebung extrem verletzlich seien, sagt Annemarie Sellin, könnten unter Prüfungsbedingungen unmöglich den Erwartungen entsprechen.“ Doch es bedarf keiner sektenhaften FC-Gläubigkeit, um Tests mit einseitiger Befehlsstruktur zu hinterfragen. Vor allem wenn sich der Blick auf den autistischen Menschen richtet, wird klar, daß sie sich diesen Befehlsstrukturen durch eine Flucht in ihr „inmich“ entziehen. Eigentlich hätte ein Blick in Birger Sellins Buch genügt. Schon 1991 schrieb die Berliner „ohnemichgestalt“: „richtig schreiben werde ich sobald sich die selbständigkeit so ansehen wird daß keiner denkt unsinn der schreibt gar nicht allein sondern die stützende Person es wird sogar wieder versucht wie früher mit ärgerlichem zweifel mich zu entmutigen im schulhort sagen es einige erzieher.“
Der Fall Birger Sellin ist kein Einzelfall. Das Zusammenspiel von Behindertenverachtung und Behindertenbewunderung hat eine lange Tradition. Immer wieder tauchen „Behindertengenies“ in den Medien auf. Das öffentliche Bewußtsein pendelt zwischen Verachtung und Überhöhung. Hierher gehört auch die sensationelle Berichterstattung hinsichtlich des schwerstbehinderten Atomphysikers Stephen W. Hawking. Um das Genie so richtig zur Geltung zu bringen, wurde zuerst Vorbereitungsarbeit geleistet. So war im Zeit-Magazin vom 5. August 1988 von einem „Kleiderbündel“ die Rede, das zufällig die Form einer menschlichen Gestalt ergibt. Nach dieser vorausgegangenen Entmenschlichung kam das Genie dann erst richtig zur Geltung.
Bei der Berliner „ohnemichgestalt“ lief es umgekehrt. Nur daß ausgerechnet an seinem 21. Geburtstag eine Spiegel-Redakteurin das Genie wieder der Altkleidersammlung übergibt, ist bedauerlich. Das scheint auch der Spiegel- Kollege Jürgen Neffe so zu sehen, der sich die Sache vor Ort angesehen hat und nun (Spiegel 5/1994) den Verdacht der Kollegin wieder zerstreut. Doch vielleicht findet der „inmich“-Lyriker, was die Abfuhr durch die Spiegel-Redakteurin betrifft, in seinem Text vom 1. Dezember 1991 Trost: „wie eine totale irrsinnige erdfurie erschienst du mir heute ein wichtiger tag ich weiß daß du grenzen hast.“ Franz Christoph
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen