Max Ernsts Collage-Romane: Die Sintflut im Salon
Im Max-Ernst-Museum in Brühl sind erstmals seit ihrer Entstehungszeit die Originale seines Collage-Romans "Une semaine de bonté" von 1933 zu sehen.
![](https://taz.de/picture/379866/14/maxernst10.jpg)
1933 verbrachte Max Ernst den Sommer bei Freunden auf deren Schloss bei Piacenza. Im Gepäck hatte der Surrealist einige illustrierte Romane aus dem 19. Jahrhundert, die er des Nachts ausplünderte, um daraus seinen dritten Collageroman "Une semaine de bonté" zusammenzukleben. Im Jahr darauf erschien dieser in einer Form "wie Dienstmädchenromane", wie Ernst später sagte, in mehrere Hefte gestückelt. Nun sind die Originalblätter zum ersten Mal seit siebzig Jahren, als sie zum ersten und einzigen Mal öffentlich in Madrid gezeigt worden waren, in einer Ausstellungstournee zu sehen. Der bei Dumont zur Ausstellung erschienene Katalog reproduziert die Werke in Farbe und größtenteils in Originalgröße. Auch die in Madrid damals nicht gezeigten, weil vermutlich als blasphemisch empfundenen Blätter sind darunter.
Im Zeitalter von Cut, Copy & Paste ist die Ernstsche Revolution zum Normalzustand geworden. Leicht gerät darüber in Vergessenheit, dass die Collage, in der verschiedene Bildquellen blitzartig zu befremdlichen Bildwelten zusammenschießen, einmal als visueller Skandal empfunden werden musste. Ernsts in sieben Tage und Kapitel getrennter Roman ist ein Generalangriff auf die gute alte Zeit. Frömmelei und die Lust auf Sex and Crime, Aufklärung und der wattierte, überbordende Lebensstil der Bourgeoisie, und nicht zuletzt unterdrückte sexuelle Begierden - sie alle gehen ein in Ernsts Collagen. Feine Damen begegnen Reptilien, die später in den B-Movies der Fünfziger und den Romanen Burroughs wiederkehren sollten.
Ernsts "Sehgedichte" präsentieren dem Betrachter Bürger mit Tierköpfen und Sintfluten, die ihnen den Salonboden unter den Füßen wegziehen. Träumende Schönheiten werden von Verbrechern beobachtet. Häusliche Grausamkeiten kontrastieren mit Gesten bürgerlicher Innerlichkeit und Etikette. Das Herz Jesu wächst aus dem Schoß aufreizender Jungfrauen, ein Löwenmann kitzelt einer gefesselten Schönheit die Füße mit einer Feder. Ernst brauchte dem Unhold nur einen neuen Kopf zuzuschneiden, die SM-Szenerie der eingeschnürten und hilflosen Frau selbst fand er in der Illustration zu einer jener Geschichten vor, von denen sich das Publikum einst hatte schockieren lassen.
Wer glaubt, erst unsere Zeit habe eine Flut von Schund über uns gebracht, kann sich von Ernsts Collagen eines Besseren belehren lassen. Viel unheimlicher als die sensationslüsternen Originale aber sind die von Ernst erzeugten neuen Konstellationen, in denen die Welt aus den Fugen gerät. Getier treibt sich in den Behausungen der Bourgeois herum, und das Lumpenproletariat auf den Straßen von Paris hat sich in Fabelwesen verwandelt, die Mythen entstiegen zu sein scheinen, die wir nicht kennen. Meist ist es ein dritter Mann oder ein Tier, die sich zu Szenen der häuslichen Zweisamkeit oder des Verbrechens hinzugesellen. Sie blicken den handelnden Personen über die Schulter oder sitzen ihnen buchstäblich im Nacken.
Der Einbruch dieser nicht vorgesehenen Präsenzen, den Ernst mit Schere und Kleister mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit fürs Detail orchestriert, ist unheimlich, weil er sich weder erklären noch im Sinne einer Allegorie entziffern lässt. Die schwer zu fassende Macht, durch überraschende Kombinationen und die damit verbundene Attacke auf das Originalmaterial den Betrachter in chaotische Kognitionsprozesse zu katapultieren, fasst Werner Spies mit dem schönen Begriff des "hermeneutischen Zwangs" zusammen: Die Collage will entschlüsselt werden, doch Max Ernst hat den Schlüssel weggeworfen.
In seinem profunden Aufsatz im Katalog zur "Woche der Güte", - ein Name, zu dem sich Ernst übrigens von einer französischen Hilfsorganisation inspirieren ließ -, skizziert Spies die Entstehung dieser Collagen. Ernst bediente sich dafür bei Holzstichen, dem führenden, massenhaft konsumierten Bild-Medium der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Holzstiche illustrierten die Abenteuer-, Horror- und Kriminalgeschichten der Feuilletonromane, die für reißenden Absatz der Zeitungen sorgten. Dabei sind die Collagen, die zumeist auf einer Illustration basierten, die dann durch neue Elemente ergänzt wurde, keineswegs als Kommentare auf die untergründigen Bedeutungen des zeitgenössischen Bildgedächtnisses zu lesen, wie Spies deutlich macht. Die Holzstiche des späten 19. Jahrhunderts waren Anfang der Dreißiger des letzten Jahrhunderts bereits hoffnungslos aus der Mode gekommen.
"Sie gehörten nicht einmal mehr zum Visuell-Unbewussten" und waren womöglich genau deswegen für Ernst interessant, legt Spies nahe. Denn obwohl sie vollkommen vergessen waren, transportieren sie doch aufs Genauste die Welt der Väter. Diese war für die Surrealisten spätestens mit dem Ersten Weltkrieg desavouiert. Obwohl Ernst unter den Surrealisten einer der wenigen Freud-Kenner war, liest Spies seine Collagen als antifreudianisch: Ernst präsentiere gerade nicht Botschaften des Unbewussten, die zur Entzifferung einladen, sondern konstruiere seine Collagen gerade als Nichtdechiffrierbares.
Man könnte meinen, und Spies deutet es an, die unstillbare Gier nach Gruselgeschichten, wie sie sich in den Feuilletonromanen zeigte, erscheine in Ernsts Collagen als Kehrseite positivistischer Wissenschaft und ihres uneingeschränkten Glaubens an die Möglichkeit der Sezierung der Welt. In diesen Geschichten wurden die Regungen und Gelüste von Sex-Monstern und Mördern erst genossen, um sie dann mitsamt ihren Trägern der Guillotine zu überantworten. Genau das ist vielleicht der Kern der falschen, faschistischen Antwort auf die Unterdrückung von Sexualität und Lebenslust: Sie selbst nur in pervertierter Form genießen zu können und anschließend jede Erinnerung daran auf einen schmutzigen Anderen zu projizieren.
"Une semaine de bonté" ist derzeit im Max-Ernst-Museum in Brühl zu sehen. Vom 19. September bis 11. Januar 2009 zeigt die Hamburger Kunsthalle die Originalblätter. Der Katalog ist bei Dumont erschienen, umfasst 320 Seiten und kostet 39,90 Euro
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen