Matthias Énards "Zone": Kursbuch der Vernichtung
Mathias Énard gelingt das Kunststück, eine Sinfonie über den Krieg zu komponieren, ohne dass sie kitschig wird. Dabei übertrumpft er Jonathan Littell sprachlich um Längen.
Wie soll man so etwas lesen, werden Sie sich fragen, ein Buch, das zum Großteil aus einem einzigen Satz besteht und dann auch noch knapp 600 Seiten lang ist, wie soll man freiwillig einen derartigen monumentalen Gedankenstrom als überbordende Rückblende nachvollziehen, und wie kann man diese halluzinogene Erinnerungsorgie als endlose autobiografische Reflexion eines alkoholisierten sowie von Drogen zermürbten Erzählers überhaupt ernst nehmen - doch das Erstaunliche ist, es funktioniert ganz ohne Probleme, man steigt als Leser sofort in diese ausufernde Analepse mit ein und wird so selbst ein Mitreisender in Mathias Énards großartigem Roman "Zone", diesem als Weltliteratur gefeierten Text eines 1972 geborenen französischen Autors, der selbst Kunstgeschichte studierte, Erfahrungen im Nahen Osten sammelte und heute in Barcelona arabische Sprachen lehrt; man hat Énard bereits verschiedene Preise für sein bisheriges Hauptwerk verliehen, wie auch sein Roman mit Jonathan Littells Bestseller "Die Wohlgesinnten" (2006) verglichen wurde, ja sogar von einer ernst zu nehmenden Referenz die Rede war, die Énard mit seinem in genau 24 Kapitel unterteilten Text der Geburtsurkunde der europäischen Kriegsliteratur, nämlich Homers ebenso strukturiertem Epos der "Ilias" erwiesen habe; man nimmt den Band also mit in einen Zug nach Berlin, weil man weiß, dass es wieder eine lange Fahrt werden könnte, da das sogenannte Schneechaos einmal mehr seinen Tribut fordern wird, und als der ICE in Niedersachsen erstmals liegen bleibt, ist man schon längst tief drin in der Geschichte: Francis Servain Mirkovic heißt der Erzähler, wobei er unter dem Namen eines im Irrenhaus vegetierenden Jugendfreundes reist, der als Neonazi durchdrehte, Mirkovic alias Yves Deroy denkt viel nach auf seiner Zugfahrt, die ihn über 500 Kilometer von Mailand nach Rom führen soll, wo er einen im Gepäcknetz über ihm festgeketteten Koffer voller Daten über europäische Kriegsverbrecher an den Geheimdienst des Vatikans verkaufen möchte, um der Welt der Spionage den Rücken zu kehren und endgültig auszusteigen, früher kämpfte er freiwillig als Franzose und Sohn einer fanatischen Kroatin im Jugoslawienkrieg auf Seiten von Franjo Tudjmans Heer gegen die Serben, hatte also als adoleszenter Nationalist keine Probleme mit der faschistischen Ustascha-Tradition dieser Armee, und er wurde folgerichtig selbst zum Täter, zum Mörder und Vergewaltiger, wenn auch als "ganz normaler Mann" und eher kleine Leuchte in irgendeiner Einheit, lebte danach eine Zeit lang in Venedig und laborierte an den Traumatisierungen und psychischen Beschädigungen, die auch solche Verbrecher wie er bisweilen nach dem Krieg an sich feststellen müssen, wurde depressiv und verlor seine vornehme Pariser Verlobte Marianne; Mirkovic wechselt danach zum französischen Geheimdienst und reist durch ganz Europa, man entsendet ihn unter anderem nach Algerien, wo die wehrlose Zivilbevölkerung in den 1990er Jahren zwischen den Islamisten und der algerischen Armee aufgerieben wird; den Protagonisten verschlägt es aber auch nach Ägypten, wo er zufällig auf den ehemaligen niederländischen SS-Vergewaltiger Harmen Gerbens trifft, der in den 1940er Jahren die ihm ausgelieferten Frauen im Durchgangs-KZ Westerbork misshandelte, ehe er nach dem Zweiten Weltkrieg in Alexandria einen Exiljob fand, um irgendwann in den 1950er Jahren in Kairoer Gefängnisverliesen eingebuchtet zu werden, weil man ihn in Ägypten als angeblichen Verräter militärischer Geheimnisse enttarnte; der Erzähler trifft diesen Gerbens zufällig in einem schummrigen Spirituosenladen als lallenden alten Mann und heruntergekommenen Penner, der billigen Schnaps trinkt und Tränen in den Augen hat, weil er zwar frei sei, aber nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren könne, wo seine Familie lebe - Gerbens begegnet uns also im Roman zunächst als scheinbares Justizopfer, doch dann erinnert sich Mirkovic an ein Treffen mit einem Mossad-Agenten, der mehr wusste - und so weiter, solche verstörenden Geschichten gibt es in diesem Roman zuhauf, man verliert sich beinahe in seinem dicht versponnenen narrativen Netz, aber eben auch nur fast, denn nach und nach wird doch klarer, was es mit solchen Charakteren wie Harmen Gerbens tatsächlich auf sich haben könnte, bevor sie vorerst wieder im Erinnerungsstrom des Erzählers in den Hintergrund treten, alle diese Figuren sind jedenfalls grausame Mörder, gewissenlose Folterer und auf Rache sinnende Krieger, mehr noch, das gesamte Mittelmeer und seine Anrainerstaaten erscheinen in diesem abgründigen Buch als eine einzige Zone der Vernichtung, und zwar seit der Antike, über die Seeschlacht von Lepanto, an der ein gewisser Miguel de Cervantes teilnahm, den Ersten Weltkrieg, den Holocaust und die Balkankriege bis hin zum War on Terror George W. Bushs, der den Protagonisten schließlich nach Bagdad führt, wo er den früheren Söldnerkollegen aus der kroatischen Armee und gleichzeitigen Kriegsreporter namens Eduardo Rózsa wiedersieht - wer mag das zum Beispiel sein, fragt man sich nach einem zwischenzeitlichen Vorblättern, denn dieser Mann wurde am 16. April 2009 von bolivianischen Sicherheitskräften als Terrorist erschossen, weil er angeblich einen Anschlag auf den Präsidenten Evo Morales plante, wie uns das Glossar am Ende von Énards Buch informiert - und siehe da, man kann diesen Rózsa-Flores sogar googeln, es gab ihn also wirklich, dieser Roman wächst im Internet weiter, und Rózsa taucht auch noch in der Danksagung Énards im Anhang seines Werks auf, gehöre dieser dubiose Typ doch zu denjenigen Menschen, die dem Autor auf seinen Recherchereisen ihre "Geschichten" anvertraut hätten, aus denen sein literarisches Werk nunmehr komponiert sei - Realität und Fiktion verschwimmen zusehends weiter, während man kurz hinausblickt auf die apokalyptisch anmutenden Schneewehen zwischen Göttingen und Hildesheim, und bei den meisten historischen Rückblenden dieses Romans hat man ja auch genau diesen Eindruck: das ist nicht ausgedacht, vieles ist aus der Historiografie bekannt, allerdings wurde es hier gelungen literarisiert und mit unerwarteten Zusatzinformationen gespickt, wobei der Roman gleichzeitig ein Metaexperiment in der Tradition von James Joyce darstellt, der im Text ebenfalls ausführlich vorkommt, genauso wie William S. Burroughs, Ezra Pound oder auch Malcolm Lowry, Letzterer als Autor des berühmten Alkoholiker-Prosawerks "Unter dem Vulkan" (1947) wohl vor allem auch deshalb, weil "Zone" gleichzeitig ein depressiver Trinkerroman sein will, ein elegischer Text über die melancholischen Überlegungen eines Mannes, der sich auf seiner Zugfahrt durch die Toskana langsam mit Gin betäubt, einer Reise, die ebenso Erinnerungen an die napoleonischen Kriege wie an mittelalterliche Hinrichtungen erlaubt - eigentlich gar keine schlechte Idee, denkt man kurz, das Buch einfach einmal mit ins Bordbistro zu nehmen, bleibt dann aber lieber doch sitzen, thank you for travelling with Deutsche Bahn - was aber könnte nun das Problem sein mit diesem Text, fragt man sich jetzt als Literaturkritiker plötzlich und verfällt in tiefe Zweifel über das poetologische Arrangement dieses Buchs, das einer Bachschen Fuge gleicht (die Mutter des Erzählers ist Pianistin), einer großen literarischen Sinfonie, die aber vielleicht doch am Ende nichts weiter darstellt als eine kitschige, um nicht zu sagen abgeschmackte Ästhetisierung des Krieges als Zeus Vermächtnis, als unabänderliches Schicksal einer ewigen Aneinanderreihung von Gewaltverbrechen, die "Menschen den Menschen antun", wie die Phrase besagt, wobei ein solches Geschichtsbild die Einmaligkeit der Shoah leugnet, eines tatsächlich europaweit und mittels des internationalen Bahnnetzes organisierten Vernichtungsprozesses von nie dagewesenen Ausmaßen, der noch die entlegensten griechischen Inseln in der Ägäis erreichte, kaum ein jüdisches Opfer blieb verschont - andererseits kommt das ja alles bei Énard vor, als mörderisches Rhizom strukturiert die verkehrstechnische Organisation des Holocaust den Text sogar maßgeblich mit durch, das alles ist und bleibt verflochten, suggeriert uns Énard, der so gesehen selbst ein veritables Kursbuch der Vernichtung verfasst hat, wobei "Zone" Littells monumentalen Shoah-Roman "Die Wohlgesinnten" sprachlich übertrumpft und in seiner Polyfonie um Längen schlägt - weswegen man dann doch bald einsehen muss, dass Énards Buch ganz einfach große Kunst darstellt und gleichzeitig einer der traurigsten Texte ist, den man seit Jahren gelesen hat, noch dazu ist er unfassbar gut übersetzt, denn es ist tatsächlich ein ganz erstaunlicher Effekt, mit dem einen dieses dichte poetische Gewebe bestrickt; dass das Ganze - von wenigen Kapiteln einmal abgesehen, in denen uns der Erzähler ein Buch des fiktiven libanesischen Autors Rafaël Kahla über den Bürgerkrieg in Beirut zu Beginn der 1980er Jahre vorliest - wirklich aus einem einzigen, atemlosen Satz besteht, bevor am Ende hinter dem Schlusswort "Weltuntergang" tatsächlich ein Punkt steht, stört gar nicht - im Gegenteil - und wie der Text die historischen Täterfiguren der Shoah schließlich durch ganz Europa verfolgt, wobei er auch ihre Opfer lebendig werden lässt, kommt einem nun doch schon wie ein kleines literarisches Wunder vor, während man endlich in Berlin einfährt, von wo das alles einmal ausging, meine Güte, wir alle leben in einem großen Gespensterroman, schießt es einem beim Umsteigen in die sogenannte Kanzler-U-Bahn noch durch den Kopf. Punkt.
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