■ Wahrheit-Reporter vor Ort: Matjesprobe in Glückstadt
: Matjes & Mehr

Glückstadt (taz) – Die Alpen und die Gegend zwischen Hamburg und Brunsbüttel verbindet auf den ersten Blick wenig. Es scheint jedoch, als riefen sowohl hohe Berge als auch deren absolute Abwesenheit bei der eingeborenen Bevölkerung einerseits heftige Freude am Bierverzehr, andererseits eine Neigung zur Verehrung jungfräulicher Wesen hervor. Ende der Gemeinsamkeiten – denn wo der Bergmensch gern der Jungfrau Maria huldigt, begeistert sich das Nordlicht ähnlich andächtig für einen jungfräulichen Fisch: den Matjeshering.

Ein Tier, dessen Kult erfordert, daß man es fängt, bevor es Gelegenheit hatte, sich zu vermehren; ein Tier, dessen kleine Leiche rituell verstümmelt wird, bevor es in den Rachen der gierig wartenden Menge verschwindet, die sich im Frühsommer regelmäßig zu ihrem größten Fest versammelt: der Matjesprobe.

Zentrum der Verehrung ist Glückstadt an der Elbe, seit über dreißig Jahren Wallfahrtsort für jene, die kommen, den unschuldigen Junghering zu preisen. Wer ist nun dieser geheimnisvolle Matjes; wie sieht er aus, wo kommt er her, was geschieht mit ihm in Glückstadt und vor allem: Woran erkennen die mit seiner Jagd betrauten Fischer, daß er noch keinen Sex hatte?!

Um ersteres zu klären, reicht ein Testkauf bei „Matjes & Mehr“. Hier bietet man „alles rund um den Matjes“ und natürlich den Matjes selbst an.

Klein und glitschig liegt er vor mir; still schmiegt er sich in eine durchsichtige Plastikdose, während Henning Plotz, sein ehemaliger Besitzer und Inhaber von „Matjes und Mehr“ über Herkunft und Spezialbehandlung Auskunft gibt. Der Fisch war Däne, bevor es ihn nach Glückstadt verschlug, und ihn auf See ausfindig zu machen ist überhaupt kein Problem – denn ebenso wie der Mensch neigt der Hering im Übergang zum Erwachsenenleben dazu, sich in Horden herumzutreiben.

Gut für die Fangschiffe, schlecht für den Hering, dessen Pubertät so per Netz und Frostschock ein abruptes Ende findet. Steifgefroren erreicht er Glückstadt, wo er zunächst aufgetaut und alsbald „gekehlt“ wird: Ein Schnitt unterhalb der Kiemen entfernt einen kleinen Teil der Eingeweide und bereitet den zukünftigen Matjes auf das nun folgende, sechs- bis achttägige Salzbad und die anschließende Filetierung vor. So entsteht ein Produkt, das weit über die Grenzen der Region hinaus bekannt ist. Auf Mundpropaganda allein verläßt man sich aber lieber nicht, was das Zustandekommen des offiziellen Matjesprobenlogos erklärt. In perfektem Tattoo-Stil schwebt dort eine nackte Barbiepuppe umher, deren Frisur kommentarlos ein Haus entwächst. In ihrer Kniekehle birgt sie einen zierlichen Turm, während sie etwas an die linke Hüfte preßt, dessen hinteres Ende vage an ein Füllhorn gemahnt, vorn aber als düsteres Abwasserrohr endet, das dem Betrachter verendende Fische entgegenspeit. „Willkommen zur Matjes-Probe“, steht auf dem wehenden Spruchband, an dem die Schöne sich festkrallt.

Und willkommen sind sie in Glückstadt, die Touristen, die nun auf dem Marktplatz hungrigen Auges und wässernden Magens den Auftakt der neuen Matjessaison verfolgen. Der nach so langer Vorbereitung selbstverständlich nicht einfach darin besteht, daß man gesellig beisammenhockt und die Zähne in den nächstbesten Fisch gräbt. Auch der Verzehr braucht ein Ritual. Seit Manfred Bruhn, Bürgermeister a. D., 1968 die „Glückstädter Matjeswochen“ erfand, ist der erste Biß in den Fisch traditionell Chefsache. Nach über 30 Jahren als Verwaltungschef schreibt er in seinen Erinnerungen: „Unter den erwartungsvollen Blicken der Zuschauer wurde der gekrümmte Rücken eines Matjes dem Bürgermeister zum Hineinbeißen gereicht. Das war die sogenannte Matjesprobe. Alle Ehrengäste taten es ihm nach und befanden den Matjes für vorzüglich.“

Ein Bild voller Harmonie, das zweifellos auch heute ein Lächeln auf die Gesichter der Touristen zaubern wird, wenn sie beobachten dürfen, wie Zeremonienmeister Alfred Chachulski dem eigens zum Beißen angereisten Minister des Landes Schleswig-Holstein für ländliche Räume, Landwirtschaft, Ernährung und Tourismus, Klaus Buß, ein Stück Fisch darreicht.

Damit ist die Matjessaison offiziell eröffnet, und es folgt, worauf Aug' und Magen freudig warten: die Speisung der vermutlich weit über 5.000 mit Heringshäppchen; eine Kulthandlung, die den Übergang zur maritim-charmanten Festwoche bildet.

Wie der Fisch, so die Fete: Die „Schillerlocken“ bieten Lieder rund um die Küste, der Maler Hinnerk Bodendieck verspricht eine Vernissage zum Thema „Logger, Salz & Hering“; es gibt eine „Matjesmeile mit Flohmarkt“ und, was bei einem bereits toten Fisch erstaunt, ein „Matjes-Pokal-Angeln“. Michaela Behrens