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Archiv-Artikel

Mathe rockt

Verstörung de luxe

Der Math Rock ist ein Ableger experimenteller Rockmusik und ein Halunke. Denn er hat große Freude an der Verstörung seiner Hörer. Wie er die hervorruft? Durch missklingende Akkorde und vor allem durch launische Stop-und-Start-Rhythmen. Es geht um das Rumspielen mit Taktwechseln.

Sie gehen in allen möglichen Mustern vonstatten, steigen mal in vorhersehbarer Reihenfolge auf (4/4, 5/4, 6/4, 7/4), fallen dann wieder ab, folgen in ihrer Logik bisweilen Fünfte-Klasse-Rechenaufgaben (3/4 + 4/4 = 7/4) oder üben sich in akustischer Verstrahlung (5/4, 5/8, 6/4, 9/8). Über zwei Taktwechsel pro Lied, mit denen andere Bands gut und gerne auskommen, können Math-Rocker nur lachen.

Das hat zur Folge, das ein Math-Song in einem Moment dunkler Trauerrock sein kann, um im nächsten Augenblick mit großem Trara in jazzige Sphären abzudrehen – und gegen Ende mutiert er vielleicht zu unhörbarem Dreck. Alles ist möglich.

Math Rock fußt auf einer durchkalkulierten Klangstruktur, die sorgsam zusammengesetzt wird. In dieser Bedachtheit (beziehungsweise in dieser Kauzigkeit) liegt die Schönheit des Ganzen. Und ein Übermaß an Erfindungsreichtum, das einen staunen lässt. Allerdings erst, nachdem man die Verstörung und das Ohrenbluten verkraftet hat, die sich beim ahnungslosen erstmaligen Hören einstellen.

Das Rumexperimentieren mit ungewöhnlichen Zählzeiten und verschrobenen Strukturen gibt es in der Rockmusik aber nicht erst seit der Geburt von Math. In den 1970ern versuchten Bands wie King Crimson, Yes und Van der Graaf Generator, die Grenzen des Rock zu durchbrechen und ihn von seinen Blues-Schemata zu befreien. Dazu bedienten sie sich Elementen aus Jazz und Klassik. Diese Progrocker haben Math Rock den Weg geebnet.

Die Genrebezeichnung „Math Rock“ kam in den späten 1980ern auf und wurde von vielen Musikern, die zu diesem Genre gezählt werden, passioniert abgelehnt – wie Musiker eben passioniert jede Schublade ablehnen, in die sie gesteckt werden.

Die meisten Math-Bands waren in den USA aktiv. Besonders der Mittlere Westen des Landes galt in den 1990ern, der Hochphase des Genres, als Math-Territorium, und in Chicago schlug sein Herz. Denn hier war Steve Albini ansässig, der begnadete Lieblingsproduzent der Szene, der im Verlauf seiner Karriere auch der Musik von Nirvana, Pixies, PJ Harvey und Joanna Newsom seine Handschrift verpasste.

Zudem beherbergte Chicago das Label Touch and Go Records, den Ableger Quarterstick und Skin Graft und tut es bis heute. Hier erschienen Alben von De-luxe-Math-Bands wie Don Caballero. Das 1991 gegründete Instrumentalquartett prägte das Genre wie keine andere Band. Und bestach durch Songtitel wie „Slice where you live like a pie“. Tja, was will man machen? Texte waren im Math Rock eben nie wichtig, sondern, sofern überhaupt vorhanden, bloß ein weiterer Klang in der Komposition.

Mittlerweile haben sich die einstigen Topchecker des Math Rock neuen Horizonten zugewandt. Ian Williams, Gründungsmitglied von Don Caballero, spielt mittlerweile Gitarre bei der Überband Battles und denkt Math-Ideen gefühlte 387 Jahre weiter. Und seine Exband veröffentlichte vor einigen Tagen das Album „Punkgasm“ – was mit dem Don-Caballero-Sound von damals nur entfernt etwas zu tun hat. Math funktioniert im Jahr 2008 vor allem als Zitat.

JOANNA ITZEK

Auf jeden Fall fanden das die Erfinder des „Math Rocks“. In den 90ern konnten sie niemanden so recht davon überzeugen: Doch jetzt wird das Strebergenre auf einmal poptauglich

VON JOANNA ITZEK

New York. Amerikanische Knallermusiker wühlen in der Rumpelkammer der Musikgeschichte. In der hinterletzten Ecke finden sie: den vor sich hin siechenden Math Rock. Er eignet sich eher zum Denken als zum Tanzen. Math Rock verdankt seinen Namen der mathematischen Präzision und Struktur, mit der er gemacht wurde – hauptsächlich von Jungs in den 1990ern, die Dissonanzen und vertrackte Rhythmen heißer fanden als Mädchen. Und wohl auch zugänglicher.

Nach seinem kurzen Geburtshype wollte allerdings kaum jemand mehr etwas von Math Rock und der gitarren- und schlagzeugerzeugten Schwierigkeit wissen. Nun tauchen aber diese vier Amerikaner mit ihrer Band auf: Battles. Sie lassen sich von dem vergessenen Strebergenre inspirieren, veröffentlichen das Album „Mirrored“ und gehen auf Tour. Der akustische Ausnahmezustand bricht aus.

Berlin. Battles spielen. Oder so etwas Ähnliches. Man könnte vielleicht besser sagen: Sie fischen unberechenbare Tonabfolgen, ungerade Rhythmen und wahnwitzige Songarchitektur aus irgendeinem hoch entwickelten Paralleluniversum, das der Menschheit bislang verborgen war. Und das Ganze mit dem klassischen Rockbandgerät aus Gitarre, Schlagzeug, Keyboard und Bass. John Stanier, der Schlagzeuger, betätigt sich als fleischgewordene Drummaschine. Holzspiltter lösen sich von seinen Sticks ab und schießen durch die Luft.

Nach nur einem Song verwandelt sich der Mann in einen Rasensprenger: Er verspritzt Schweiß in alle Richtungen, die Tropfen mischen sich unter die Holzsplitter. Alles zusammen flirrt im Scheinwerferlicht als Aura um den Drummer, während er und seine drei Bandkollegen mit ihrer größtenteils instrumentalen Musik am laufenden Meter Standards aushebeln und Erwartungen unterlaufen. Amen!

Aus den Ideen, die in einem einzigen Battles-Titel stecken, machen andere ein ganzes Album. Die Band kam 2003 in New York zusammen. Zuvor hatte John Stanier bei der Hardcoregruppe Helmet das Schlagzeug geschreddert. Gitarrist und Keyboarder Ian Williams spielte bei der Band Don Caballero, einer Art Inbegriff des Math Rock. Mit Tyondai Braxton, dem Sohn des Jazzmusikers Antony Braxton, und Dave Konopka waren Battles dann komplett. Und irritiert. Denn da stand noch etwas im Raum, mit dem sie zurande kommen mussten: die eigene musikalische Vergangenheit.

„Es dauerte ein Jahr, bis wir uns von unseren alten Arbeitsweisen gelöst hatten“, erzählt Braxton. Das Projekt Battles funktionierte als akustischer Reinigungsprozess. „Komplett neu erfunden haben wir uns trotzdem nicht. Dann würde ich jetzt Gitarre spielen“, wirft Schlagzeuger Stanier ein. „Und ich Drums!“, flankt Gitarrist und Bassist Dave Konopka und merkt an: „Klar willst du nicht, dass deine neue Band klingt wie deine alte. Trotzdem greifst du auf das zurück, was du bereits gelernt hast. Unser sogenannter Neuanfang ist wie jeder Neuanfang: zu gleichen Teilen Bullshit und Wahrheit.“

Mein Gespräch mit der Band läuft ab wie ein Battles-Song. Am Anfang steht eine Idee, dann kommuniziert jeder mit jedem quer über den Tisch, die Erzählstränge laufen parallel, kreuzen und überlagern sich, jazzen sich an, und irgendwie kommen Battles im regen Austausch schließlich von der Vergangenheitskiste auf Schönheitsoperationen und Horoskope. Konopka: „Also ich bin Jungfrau, John ist Löwe. Und du?“ Nachvollziehbar ist das alles hinterher nicht mehr.

Wie schreibt die Band ihre bis unters Dach mit Assoziationen vollgestellten Lieder? „Wir bekleben die Wände des Proberaums mit großen Papierbögen. Darauf benennen wir jedes Versatzstück jedes einzelnen Songs“, sagt Ian Williams, „sonst könnten wir uns die Struktur nicht merken.“

Die Sounds bekommen Namen wie zum Beispiel Hase und Hahn. „Sie werden zu eigenen Charakteren. Und wir füttern diese Charaktere mit Musik, züchten sie heran“, so Williams, „sie treten in Dialoge, sie kämpfen und spielen miteinander.“ Battles überlassen in ihrem akustischen Zoo nur wenig dem Zufall. Sie proben ihre Stücke hunderte von Malen, bevor sie damit auf die Bühne gehen. Mit Improvisation sei da nicht viel, lässt Williams wissen. Als die Band mit der Arbeit an „Mirrored“ begann, hing ein Bogen mit Tier- und sonstigen Namen an der Wand. Am Ende war der Raum zutapeziert.

Battles sind trotz aller Komplexität und Strukturdiktatur, was Math Rock eigentlich nie war: hörbar. Statt den Math Rock wieder ans Tageslicht zu befördern, walzen sie ihn mit ihrem Musikentwurf nieder. Sie überwinden diese Genreschublade, wie sie jede Genreschublade überwinden. Unter Vertrag sind sie bei Warp, einem Londoner Label für vorrangig elektronische Musik. Hundert Kilometer entfernt von:

Oxford. Fünf britische Kiffer wühlen in der Rumpelkammer der Musikgeschichte. Am Boden liegt der Math Rock und röchelt. Die Kiffer sind die Band Foals, und ihnen wird schlecht bei dem hässlichen Anblick. Wenn es etwas gibt, was die jungen Männer verabscheuen, dann ist es Math Rock. „Es gab eine Zeit in unserer Stadt, da wollte jeder Depp komplizierte, verkopfte Gitarrenmusik machen“, sagt Yannis Philippakis, der 21 Jahre alte Sänger der Foals.

In Oxford veranstalteten schon Radiohead ihre Rockexperimente und legten die Messlatte für die nachfolgenden Generationen von Musikern recht hoch. „Das lief ab wie ein Wettbewerb: Wer ist die schlauste Band vor Ort?“, so Philippakis weiter. Foals, deren Konzerte auch mal in Schutt und Asche enden, verstünden sich als eine Reaktion gegen das Schlaumeiertum: „Math und dergleichen geht uns am Arsch vorbei, wir wollen Musik machen, zu der die Mädchen tanzen.“

Und die Mädchen tanzen zu dem dieses Jahr veröffentlichtem Foals-Debüt „Antidotes“. Doch was sie – gemeinsam mit den tanzenden Jungs und den Musikkritikern – bejubeln, sind kantige Harmonien, verzwickte Stakkatos und Gitarren, die wie Insekten klingen. Zusammen mit den Synthesizern organisieren sie sich in polyrhythmischen Mustern. Kurzum: Mit klaren Akkorden und 4/4-Takt hat die Musik der fünf Briten nichts zu schaffen. Sie ist ausgerechnet das, was sie laut Philippakis nicht sein sollte: intellektuell aufgedonnert. Genauestens konstruiert. Und eine Hommage an den Math Rock.

Foals leben von Widerspruch und Gegensatz. Aber wer kann ihnen die Schizonummer schon verübeln? Sie arbeiten schließlich an einem höchst widersprüchlichen Produkt. Denn all die Ordnung, der in ihren Songs steckt, führt die Hörer geradewegs ins Chaos. Konkret heißt das: Die akustisch anspruchsvollen Lieder der Foals verleiten zum Möbelkaputttreten. Besonders das britische Publikum ging dieser Beschäftigung ausgiebig nach.

Bevor Foals durch die Musikpresse gereicht wurden, mieteten britische Fans die Band des Öfteren über Myspace für Gratiskonzerte in ihren Privatwohnungen. Manchmal spielten Foals vor zwei Menschen und einer Schüssel Thunfischsalat, dann wieder stopften sich fünfzig Leute in ein enges Wohnheimzimmer und ließen sich von Philippakis Schreigesängen in den körperlichen Exzess treiben. Von diesen Gigs existieren Fotos und Videoclips: Durchbrochene Wände sind da zu sehen, zerborstene Spanplatten – und mittendrin die verausgabte Band mitsamt ihren verausgabten Fans.

Längst sind Philippakis und seine Mannen mit ihrem Schlaubergerkrawallsound in den britischen Charts angekommen und werden auch in Tokio und New York von jungen Hipstern beklatscht. Am Ende des Tages, wenn niemand hinguckt, schleifen sie den röchelnden Math Rock aus seinem Loch und führen ihn dem aktuellen Geschehen zu. Sie machen ihn poptauglich. Und das ist gleichermaßen das Irre wie das Tolle am Pop unserer Zeit: Es gibt einfach keine stilistische Verirrung, die nicht zitiert werden könnte.

JOANNA ITZEK, Jahrgang 1981, ist Volontärin der taz. Zum Matheabi ging sie direkt nach einem AC/DC-Konzert. Die zweite Ableitung hatte mindestens ebenso viel Sexappeal wie Angus Young