: Materialien des Lebens
Cornelia Schleime und Hans-Hendrik Grimmling gehörten in der DDR zur autonomen Künstlerszene. In den 80er-Jahren siedelten sie in den Westen über – nun debütieren beide mit literarischen Werken
VON CLAUS LÖSER
1983 bezieht Hans-Hendrik Grimmling durch die Vermittlung des Berufsverbandes Bildender Künstler der DDR (VBK) in Leipzig ein großzügiges Atelier mit Heizung, Glasfront und Dusche. Wenig später gewinnt er einen Wettbewerb zum Thema „Die Produktivkraft Mensch in Wissenschaft und Forschung“. Daraufhin erhält Grimmling den Zuschlag für einen „Kunst am Bau“-Auftrag des Chemieanlagenbaukombinats. Das Honorar ermöglicht ihm den Unterhalt des Ateliers sowie einen entspannten Lebenswandel.
25 Jahre später grübelt der Maler darüber nach, inwieweit er 1983 bereits durch die Gewährung solcher Privilegien korrumpiert worden war. „Die Umerziehung der Vögel“ heißt sein zusammen mit der Journalistin Doris Liebermann verfasstes Buch, das auch die Künstlerjahre in der DDR rekonstruiert. „Dass ich unter so absurden Prämissen überhaupt kreativ sein wollte, beschreibt wohl die Wackligkeit meiner damaligen Autarkie und Autonomie“, schreibt Grimmling. Er ließ sich letztlich nicht bestechen: Schon 1984 organisiert er mit seinen Künstler-Kollegen Lutz Dammbeck, Frieder Heinze, Günter Firit, Olaf Wegewitz und Günther Huniat den „1. Leipziger Herbstsalon“. Im Rahmen dieses einzigartigen „Piratenakts“ (Doris Liebermann) gegen die staatliche Kulturpolitik der DDR veranstalten die Künstler im prominenten „Messehaus am Markt“ eine völlig eigenverantwortliche Kunstausstellung, die bis ins Zentralkomitee der SED hinein für Unruhe sorgt und starke Signalwirkung auf die unabhängige Szene ausüben sollte.
1986 hat sich für Grimmling das Utopiepotenzial in der DDR endgültig erschöpft: Er packt seine Koffer und siedelt nach Berlin-Kreuzberg über. „Die Umerziehung der Vögel“ behandelt seine ostdeutsche Sozialisierung – familiärer Hintergrund, Kindheit im Heim, Prägung durch Literatur, Malerei und Film, die Zeit bei der Armee und an der Kunsthochschule, Liebesaffären, erste Karriereschritte – und schlägt dann die Brücke über sein „Ankommen“ im Westen bis zur Gegenwart. Mit der eigenen Position geht er dabei äußerst selbstkritisch um. Sein Rückblick ist von Skepsis geprägt. Es sind vor allem diese Offenheit und die plastischen Schilderungen, die seine im besten Sinne klassische Autobiografie zur lesenswerten Lektüre machen.
Einen gänzlich anderen autobiografischen Ansatz findet die Künstlerin Cornelia Schleime in ihrem Prosastück „Weit fort“. Ihre unschwer als Alter Ego identifizierbare Clara durchlebt im Buch eine kurze, leidenschaftliche Liebesbeziehung, sieht sich jedoch bald auf die eigene Vergangenheit zurückgeworfen. Denn der per Internet-Kontaktbörse in ihr Leben getretene Ludwig aus dem fernen Regensburg entzieht sich plötzlich der rauschhaften Zweisamkeit, hinterlässt eine Leerstelle, auf deren Grund Clara/Cornelia eine offene Wunde aus ihrer DDR-Zeit auszumachen beginnt. Sie vermutet, dass sich mit dem Verschwinden des Partners ihre eigene ostdeutsche Geschichte im vereinigten Deutschland als Farce zu wiederholen beginnt. Sie recherchiert, betätigt sich als Privatdetektivin – doch zuletzt lässt sich der Verdacht, Ludwig sei ebenso wie ihr einstmals engster Freund Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen, nicht beweisen. „Für sie bleibt das Gefühl der Ohnmacht zurück. Sie schnürt es fest zu. Verstaut es in der letzten Ecke ihres Schrankes. Er hat sie diese Ohnmacht noch einmal fühlen lassen, mehr als ihr bester Freund vor siebzehn Jahren, als er enttarnt wurde.“ Schleime hat sich den Schock des neuerlichen Verrats in einem tranceartigen, eruptiven Schub binnen einem Monat von der Seele geschrieben. Ihr gelingen dabei starke sprachliche Bilder, die sowohl das aktuelle Erleben als auch die historischen Rekurse präzise beschreiben und gleichzeitig weite Assoziationsräume schaffen. Wie Grimmling studierte Schleime in der DDR Malerei, durchlebte anschließend den Illusionsverlust noch schneller als dieser: Nachdem sie mit Ausstellungsverbot belegt wurde, drehte sie surreale Super-8-Filme, musizierte in der Experimentalrockband Zwitschermaschine und siedelte 1984 in den Westen über. Ihr gesamtes, bis dahin entstandenes malerisches Werk ließ sie in ihrer Ost-Berliner Wohnung zurück. Den Schlüssel vertraute sie ausgerechnet Sascha Anderson an, ihrem einstmals engsten Freund. Ihre Bilder hat sie nie wiedergesehen. Grimmlings Autobiografie und Schleimes Erzählung ergänzen mit ganz unterschiedlichen Mitteln das Puzzle einer DDR, wie sie von unangepassten Menschen erlebt und überlebt wurde; sie beschreiben damit nachdrücklich die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.
Hans-Hendrik Grimmling, Doris Liebermann: „Die Umerziehung der Vögel. Ein Malerleben“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008, 287 Seiten, 24,90 € Cornelia Schleime: „Weit fort“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, 101 Seiten, 14,95 €