: Masturbation im Wald
SCHEINLOGISCHE THEORIEN Kolonialismus und Wahnsinn – der neue Comic des Belgiers Olivier Schrauwen: „De man die zijn baard liet groeien“
VON JAN-FREDERIK BANDEL
Es ist schon kompliziert mit den Comics, der Hochkultur und deren Wachposten. In den 1960ern priesen Schriftsteller und bildende Künstler bunte Heftchen als Trashprodukte, zitierten, so gut es ging, Super- und Batman und hofften, ein bisschen Luft aus der verquasten High Art zu lassen. In den 1970ern wurden die Bildergeschichten zur „Neunten Kunst“ erklärt, in den Achtzigern mussten es plötzlich „Erwachsenen-“, in den Neunzigern „Avantgarde-Comics“ sein. Und heute?
Da feiert das Feuilleton die „Graphic Novels“, so sie nur ernsthaft, autobiografisch, auf jeden Fall aber „authentisch“ daherkommen. So unsinnig das über die Jahre wiederholte Lob ist, der Comic sei endlich „erwachsen“ geworden, so verlockend scheint die Entgegnung, er möge getrost ein bisschen kindisch werden. Und sich seiner Kindertage erinnern, also der Zeitungsstrips der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Welch komisches, subversives, fantastisches Potenzial in diesen längst kanonisierten und zumeist vergessenen Bildgeschichten liegt, hat der Belgier Olivier Schrauwen mit seinem 2008 auch auf Deutsch erschienenen Debütalbum „Mein Junge“ bewiesen. Der 1977 geborene Zeichner bedient sich der Form des Pasticcio, greift auf die Bildwelten der klassischen Zeitungscomics, vor allem jener Winsor McCays, zurück und entwickelt daraus Miniaturen von sperriger Eleganz und drastischer Komik mitsamt dem Inventar einer auseinanderfallenden bürgerlichen Welt. Den Höhepunkt der Handlung bildete ein Pygmäenaufstand im Zoo von Antwerpen.
Auch Schrauwens neuer Band, „De man die zijn baard liet groeien“ (Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ), setzt ein im Zeitalter des Kolonialismus, im Kongo, führt dann ins Innere des Wahnsinns, in die Visionen internierter psychisch Kranker. Die sieben teils aneinander anschließenden, teils für sich stehenden Geschichten umkreisen verschiedene Momente des Wahns: den schubartigen Durchbruch, die Entwicklung scheinlogischer Theorien, das Umschlagen von Versagensangst in Gewaltfantasien, die Selbstüberhöhung und das Ausspinnen einer fantastischen Märchenwelt aus trivialen Versatzstücken. Vor allem die Titelfigur, traumatisiert aus der afrikanischen Kolonie zurückgekehrt, wird dabei wie Cervantes’ Don Quijote durch den bunten Mikrokosmos ihrer Visionen begleitet, gegen den immer wieder die banale, monochrom und körnig eingefärbte Realität geschnitten wird. Die Haremsdamen am Wegesrand: Nonnen, die einen Reifen wechseln. Die Orgie: einsame Masturbation im Wald. Der wundersam endlose, prächtige Zug: nur die gewöhnliche Bahnlinie. Und die drohende Vagina der Riesenhexe: der Tunnel, in dem er verschwindet.
Grafisch finden sich wiederum Elemente früher Strips, vor allem aber greift Schrauwen diesmal auf die Bildreservoire der „Outsider Art“, der „Art brut“ zurück, jener Kunst, die „von Unbekannten, von Besessenen geschaffen wurde, die durch spontane Impulse entstand, die von Fantasie und Tollheit beseelt ist uns sich nicht in den alten Gleisen der katalogisierten Kunst bewegt“ (wie der vehementeste Fürsprecher der „Art brut“, der Künstler Jean Dubuffet, 1945 schrieb). Schrauwen zitiert nicht, greift aber viele Charakteristika dieser vor allem von psychisch Kranken geschaffenen Bilder auf: starke Farbkontraste, schematisch wiederholte Bildelemente, eine oft tiefenlose Flächigkeit, in der sich die Figuren und Hintergründe in geometrische Formen oder organisch verschlungene Linien auflösen, aber auch immer wieder grotesk verzerren.
Tatsächlich berührt sich die Geschichte der Außenseiterkunst mit jener des Comics, etwa in den merkwürdig schroffen, ungelenk anmutenden Abenteuerstorys von Fletcher Hanks oder den stark vom Comic beeinflussten Bildern des „Outsider“-Künstlers Henry Darger. Natürlich ist die „Art brut“ als solche ideologisches, oft auch naives Konstrukt, ersehnt von jenen Kunstavantgarden, die in den Bildern von Adolf Wölfli, August Walla oder Friedrich Schröder-Sonnenstern, in den Konstruktionen des Briefträgers Cheval und den Maschinen Heinrich Anton Müllers Modelle einer vermeintlich jenseits aller Konventionen stehenden, „authentischen“ künstlerischen Freiheit entdecken wollten (wie zuvor in der Kinderzeichnung oder den Beständen der ethnografischen Sammlungen). Eine Projektion, die dem Comicproduzenten sicherlich bekannt ist – und die Schrauwen gerade darum nicht übernimmt. Er verweist auf eine Kunst, die die Hochkultur in ihrer Sehnsucht nach einem „ganz Anderen“ selbst längst zum Klischee gemacht und manchmal schamlos plagiiert hat. Seine Verbindung von Outsider- und Comic-Ästhetik ist gerade deshalb so präzise, fast selbstverständlich, weil sie nicht naiv ist.
■ Olivier Schrauwen: „De man die zijn baard liet groeien“ (Bries Verlag, Belgien), 112 Seiten, 19,95 Euro