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Gesundheitsämter und Ärzt*innen sind heilfroh über die neuen Corona-Einschränkungen. Sie hoffen, dass die Maßnahmen nicht zu spät kommen. Die betroffenen Branchen sind dagegen verunsichert: Wird der Staat sie ausreichend stützen?

Blick in die Intensivstation im Krankenhaus Havel­höhe in Berlin Foto: Fabrizio Bensch/reuters

Von Christina Gutsmiedl
und Tobias Schulze

Anette Wicht kann mittlerweile viele Orte aufzählen, an denen sich Menschen mit Corona anstecken. Seit einem halben Jahr fährt sie jeden Tag von Weißensee im Norden Berlins einmal quer durch die Stadt nach Steglitz-Zehlendorf im Südwesten. Eigentlich ist sie Physiotherapeutin an einer Förderschule. Doch momentan hilft sie im Gesundheitsamt mit, die Menschen zu ermitteln, die Kontakt zu Corona-Infizierten hatten. Bars, Familienfeiern, Kaffeekränzchen – das seien die Klassiker. Nur manchmal ist Wicht noch überrascht, so wie kürzlich, als ihr ein Infizierter von seinem Besuch bei einer Sexparty erzählte. „Da musste ich direkt ein zweites Mal nachfragen, so was hört man nicht alle Tage“, sagt Wicht.

Um sie herum: Teppichboden, Aktenablagen und Schreibtische, die mit Pinnwänden voneinander getrennt sind. Die Zentrale, in der die große Hoffnung liegt, die Pandemie doch noch einzudämmen, wirkt provisorisch. Das System: nur halb-digital. Die Mit­arbei­ter*innen füllen Papierformulare aus, während sie telefonieren. An der Wand neben Anette Wichts Schreibtisch hängt ein Kalender. Daran zählt sie ab, wie lange die Menschen, die sie benachrichtigt, in Quarantäne bleiben müssen. „Meistens sind die Leute verständnisvoll, wenn wir sie erreichen“, erzählt sie. „Aber manchmal sind sie auch wütend und sagen, sie hätten keine Symptome – und fangen im gleichen Augenblick an zu husten.“

Noch schlimmer aber: Wicht und ihre Kol­leg*innen können viele der Kontaktpersonen gar nicht mehr erreichen. Sie kommen mit ihrer Arbeit einfach nicht hinterher. Carolina Böhm, als Bezirksstadträtin so etwas wie die Behördenleiterin, schüttelt oft den Kopf, wenn sie erzählt. Dass die Infektionszahlen im Herbst steigen, sei keine Überraschung gewesen. Aber wie schnell und hoch das Wachstum bereits jetzt sei, habe sie nicht erwartet. „Im Vergleich zur ersten Coronawelle und dem Sommer erleben wir gerade eine völlig neue Situation“, sagt sie. „Wir arbeiten sieben Tage die Woche. Und trotzdem gerät die Nachverfolgung außer Kontrolle.“

Ihr Amt ist schon lange nicht mehr das einzige, das von der aktuellen Coronasituation überfordert ist. Schon in der vergangenen Woche hatte die Apotheken Umschau eine Umfrage unter allen 401 Behörden in Deutschland veröffentlicht. 164 antworteten und ein Viertel davon gab an, nicht mehr alle Kontaktpersonen von Corona-Infizierten rechtzeitig aufspüren und informieren zu können. Diejenigen, die es noch schaffen, ächzen unter Überstunden und Wochenendarbeit. Veraltete Ausstattung und Personalmangel, das ist ein Grund. Der Anstieg der Infektionszahlen der andere.

In den Krankenhäusern schlägt sich dieser Anstieg noch nicht so stark nieder wie in den Ämtern, aber auch hier steigt die Sorge – vor allem in den Corona-Hotspots. In Berlin-Mitte kommt am Donnerstag Mittag Norbert Suttorp aus der Charité herüber in die benachbarte Bundespressekonferenz. Suttorp ist Lungenarzt an der Universitätsklinik und berichtet von der Lage dort. „Gestern waren in Berlin 160 Covid-Patienten auf Intensivstation. Das ist mehr als zu Peak-Zeiten im April“, sagt er. Allein die Charité behandle derzeit 130 Corona-Erkrankte. „Vor zwei Wochen waren es noch 60, vor vier Wochen 30. Wir waren immer im exponentiellen Wachstum. Jetzt geht es aber richtig flott.“ Die Beschränkungen, die Bund und Länder am Vortag getroffen hatten: für Suttorp „richtig und fällig und sogar ein bisschen überfällig“.

In Frankreich gelten bis zum 1. Dezember strenge Ausgangsbeschränkungen: Zwar darf man noch auf die Straße gehen, wenn man arbeiten, wichtige Einkäufe erledigen, einen Arzt aufsuchen oder frische Luft schnappen will – dafür muss man aber eine Bescheinigung ausfüllen. Sport ist nur eine Stunde pro Tag in einem Umkreis von einem Kilometer vom Wohnort erlaubt.

Auch in anderen Ländern werden weitere Maßnahmen getroffen. Die belgische Regierung prüft derzeit, ob das öffentliche Leben im ganzen Land weitgehend lahmgelegt wird. Österreich will am Samstag neue Maßnahmen bekannt geben. Und in Litauen werden Veranstaltungen und Versammlungen an öffentlichen Orten bis 13. November untersagt. (dpa, rtr)

Ungewohnt einig zeigten sich Kanzlerin und Ministerpräsident*innen, als sie am Mittwoch in einer Videokonferenz über die neuen Beschränkungen berieten. Der Kern der Maßnahmen, die die Länder in diesen Tagen nach und nach in Verordnungen umsetzen und die am Montag in Kraft treten sollen: Im Privatleben dürfen sich nur noch Menschen aus zwei Haushalten zugleich treffen. Einrichtungen und Unternehmen, die im weitesten Sinne dem Vergnügen dienen, müssen schließen. Bars, Tattoo-Studios, Theater: im November für vier Wochen dicht. Anders als im Frühjahr dürfen Schulen und Läden aller Art dagegen geöffnet bleiben. Fabriken und andere Arbeitsstätten sowieso.

Bei Vertreter*innen der betroffenen Branchen stößt das auf Unverständnis. Sie bringen vor allem zwei Argumente vor. Erstens hätten sie in den vergangenen Monaten mit viel Aufwand an Hygienekonzepten gearbeitet und so das Infektionsrisiko gesenkt. Zweitens sei nicht nachgewiesen, dass ausgerechnet ihre Branchen vermehrt für die Corona-Ausbreitung verantwortlich seien.

Die Logik der Regierungen lautet dagegen: Solange die Pandemie außer Kontrolle ist, ist jedes Zusammentreffen von Menschen potenziell gefährlich. Und Zusammentreffen zum Vergnügen sind am ehesten entbehrlich. „So viele Hygienekonzepte wurden erarbeitet, und die Betroffenen fragen sich: Soll das alles sinnlos gewesen sein?“, sagte Kanzlerin Angela Merkel, als sie die Maßnahmen am Donnerstag Morgen im Bundestag begründete. „Ich erwidere: Nein, das war es nicht, und diese Hygienekonzepte werden auch wieder gebraucht werden. Aber im gegenwärtigen exponentiellen Infektionsgeschehen können diese Hygienekonzepte ihre Kraft nicht mehr entfalten. Wir können bei 75 Prozent der Infektionen nicht mehr zuordnen, wo sie geschehen sind.“

Mandy Krüger ist eine von denen, die deswegen ihre Türen schließen muss. Am Donnerstagabend sitzt sie im Hafen-Domizil, ihrem Restaurant in Alt­glienicke, einem eher rustikalen Wohnviertel im Berliner Südosten. Erst im August hat sie den Laden gemeinsam mit drei Partnern übernommen. Ein Risiko in diesen Zeiten, klar, aber ihr Plan schien eigentlich aufzugehen.

Wiener Schnitzel und König-Pilsener schmissen sie von der Karte, stattdessen gibt es jetzt Frischkäseklopse mit Schwarzwurzelragout, dazu Craft Beer aus Neukölln. Die alten Stammgäste blieben weg. Dafür hat sich rumgesprochen, dass man in Altglienicke jetzt auch etwas gehobener essen kann. Im Oktober haben die Einnahmen zum ersten Mal die Kosten getragen. Für Sankt Martin hatte das Hafen-Domizil schon 50 Reservierungen.

„Wir arbeiten sieben Tage die Woche. Und trotzdem gerät die Nachverfolgung außer Kontrolle“

Carolina Böhm, Bezirksstadträtin in Berlin

Und jetzt? Krügers Stimmung schwankt. „Aufgeben ist keine Option“, sagt sie in der einen Minute. „Wir schaffen einen Monat, vielleicht zwei, dann ist Schluss“, in der nächsten. Die Ungewissheit, wie lange der Gastro-Lockdown dauern wird, nagt an ihr. Genauso wie der Frust über die Ungerechtigkeiten der Pandemie. „Ich bin echt sauer auf die Partymenschen und auf die Coronaleugner mit ihren Demos ohne Masken. Die werden uns die zweite Welle eingebrockt haben und wir müssen es ausbaden.“ Immerhin: Der Staat könnte ihr dabei helfen. Die Coronahilfen für den November sind großzügiger gestaltet als die bisherigen. Weil die neuen Beschränkungen auf einen Monat und bestimmte Branchen begrenzt sind, könne die Regierung „massiv wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung anbieten“, sagte Finanzminister Olaf Scholz, als er das neue Hilfsprogramm am Donnerstagnachmittag in Berlin vorstellte.

Grundsätzlich gilt für kleine Unternehmen: Wer in den nächsten vier Wochen auf staatliche Anordnung schließen muss, bekommt 75 Prozent seiner Einnahmen aus dem November 2019 als Kompensation. Solo-Selbstständige dürfen davon auch ihren Lebensunterhalt bestreiten und nicht, wie bisher, nur ihre Betriebskosten bezahlen. Und neu gegründete Unternehmen wie das von Mandy Krüger, die bisher keine Hilfen bekamen, berücksichtigt die Regierung dieses Mal wohl auch. Sie bekommen Scholz zufolge 75 Prozent der Oktober-Einnahmen. Zumindest, wenn alles läuft wie geplant. An den Details arbeitet sein Ministerium noch.

Als Krüger am Abend im Hafen-Domizil davon hört, rechnet sie im Kopf kurz nach. „Das wäre gut“, sagt sie dann. „Gehälter und Krankenkasse könnten wir davon schon mal zahlen.“ Und wenn auch sonst alles klappt, könnte die zweite Welle für sie doch noch glimpflich ausgehen. Wenn der Laden an diesem Wochenende noch mal gut läuft. Wenn das Hafen-Domizil im Dezember wirklich wieder öffnen darf. Und wenn die neue Idee für Sankt Martin bei der Kundschaft verfängt: Den Reservierungsgästen bietet Krüger jetzt einen Lieferservice an. Menü mit Rotwein. Gans-to-go.