: Massenorganisationen mit großen Problemen
Italiens Gewerkschaften und die der UdSSR haben Gemeinsamkeiten/ Demokratische und basisnahe Bewegungen bedrohen traditionelle Massenorganisationen/ Kleine „Comitati di Base“ legen mit spektakulären Aktionen große Betriebe lahm ■ Aus Rom Pavel Negoitsa
Geschichte und Erfahrungen der beiden Bewegungen sind grundverschieden: integriert in den Staatsapparat für lange Jahrzehnte die eine, oppositionell, wenngleich in Teilen immer angepaßter, die andere. Dennoch haben sie neuerdings etwas gemeinsam, das für beide zu einer Art Nagelprobe des Überlebens werden könnte: Sie stecken in einer tiefgreifenden Repräsentationskrise. Die Rede ist vom stärksten Gewerkschaftverband des Westens, den „konföderierten“ Großorganisationen CIGL, CISL und UIL Italiens einerseits, und der bis vor ein paar Jahren monopolistischen Einheitsgewerkschaft der Sowjetunion.
In Italien ist die Gewerkschaftsbewegung, einst dominierend und mit Demonstrationen von einer halben Million Menschen und mehr beeindruckend stark, unter den Druck der „Cobas“ geraten: Die „Comitati di base“, seit dem zunehmenden Arrangement der Großgewerkschaften mit den Managern und Konzernherren in den 70er Jahren in den Fabriken gebildet, spielen vor allem im Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle. Getragen von der Erkenntnis, daß die Trusts jeden Generalstreik aushungern können, daß aber z.B. für die Blockade eines ganzen Bahnhofs ein einziger Zugführer genügt, der seine Lok auf der Weiche verrammelt, führen die Cobas mit oft nur wenigen Militanten überaus „kostengünstig“ die Paralyse des ganzen Netzes herbei, legen Teile des öffentlichen Dienstes, der Post, der Steuerbehörden, der Schulen lahm. Die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen, die die traditionellen Gewerkschaften erzielen, und den Effekten der Cobas-Aktionen ist eklatant und treibt den Basiskomitees immer mehr Mitglieder zu, während die „Alten“ kontinuierlich schrumpfen.
Diesen Prozeß kennen die offiziellen sowjetischen Gewerkschaften ebenfalls: auch ihnen sind neue, alternative Bewegungen an die Seite getreten. Dennoch muß man aufpassen, ehe man die westlichen Gegenbewegungen mit den östlichen vergleicht. Die Krise der Repräsentativität hat bei den sowjetischen Gewerkschaften nämlich zutiefst eigenständige Wurzeln, während sich in Italien vor allem die Mobilität der Gesellschaft, die Aufdröselung in immer mehr Schichten von Facharbeitern und Spezialisten bemerkbar macht — und deren Wille, ihr Spezialwissen nicht mehr nur für die Betriebe einzusetzen, sondern auch, um diese beim Arbeitskampf lahmzulegen.
Die offiziellen Gewerkschaften der UdSSR hatten, im Gegensatz zu den westlichen, jahrzehntelang die Funktion des „Transmissionsriemens zwischen der Partei und den Massen“ und übten zahlreiche staatliche Aufgaben aus, die nicht eigentlich zu den gewerkschaftlichen Tätigkeiten zählen. Diese Aktivitäten aber trugen stark zum Verlust der Autorität und der Glaubwürdigkeit bei den Mitgliedern bei. Die Unbeweglichkeit und der Bürokratismus der offiziellen Gewerkschaften in der UdSSR wurde erst in den letzten beiden Jahren aufgebrochen, vor allem nach den Bergarbeiterstreiks im Juli 1989. Die derzeitigen Gewerkschaftschefs weigern sich mittlerweile, die von der Kommunistischen Partei reklamierte Führungsrolle anzuerkennen: Sie werden zum Verhandlungspartner der Regierung, und sie verweigern sich auch dem Ansinnen, die wirtschaftlichen Umstellungen mit Hilfe einer Minderung der Lebensqualität des Volkes mitzutragen.
Soziologische Untersuchungen belegen jedoch, daß das Vertrauen in die offiziellen Gewerkschaften trotz solcher Wendemanöver kaum gestiegen ist. In diese Lücke der Repräsentativität drängen nun immer mehr neue Organisationen. In jeder Sowjetrepublik entstehen vom offiziellen pansowjetischen Gewerkschaftsverband unabhängige Verbände.
Ein weiterer Verband, die „Sozialistische Gewerkschaft“, stellt tatsächlich die Alternative zu den offiziellen Gewerkschaften dar. Doch ihm fehlt die breite Basis und vor allem die Finanzierung, und die nur begrenzte Unterstützung durch die Bürger erlaubt den „Sozialistischen Gewerkschaften“ keinen nennenswerten Einfluß auf die sowjetische Gesellschaft. Der Vorsitzende, Serghey Kromow, spricht von 50.000 Mitgliedern; die meisten Beobachter halten dies für wenig glaubwürdig.
Bei zahlreichen anderen neuen Arbeiterunionen handelt es sich nicht um eigentliche Gewerkschaften, sie ähneln eher politischen Gruppierungen. So beschränkt sich der „Arbeiterclub“ von Moskau ausschließlich auf die Unterstützung der Radikalen im Parlament. Darum richtet sich die Aufmerksamkeit der Politik vor allem auf die Bergarbeiter. Hier führen vor allem Streikkomitees die Aktionen an, nur selten die Gewerkschaften. Obwohl eine Reihe von Streikführern von den Bergleuten und Fabrikarbeitern anstelle der Gewerkschaftschefs gewählt wurden, wollen die Komitees jedoch keine gewerkschaftlichen Funktionen übernehmen. Das gilt auch für die in diesem Jahr in Novokuznezk vom Kongreß der Vertreter der Arbeiterbewegungen eingerichtete „Arbeitsförderation“. Die alten sowjetischen Gewerkschaften sehen, mit gewissem Bangen, einer Art Generalabrechnung entgegen, wenn sie im Oktober dieses Jahres ihren XIX. Kongreß abhalten. In den Dokumenten zur Vorbereitung kann man, bisher unerhört, Sätze lesen wie „wir schlagen vor, eine Föderation von Gewerkschaften zu bilden“; „die Mitgliedschaft bei der Föderation liegt alleine in der Entscheidung der einzelnen Gewerkschaftsorganisationen“ etc. Kein Zweifel: Hier tut sich Neues, auch bei den offiziellen Gewerkschaften. Es kommt jedoch reichlich spät: Im Grunde erkennen die offiziellen Organisationen ja auch nur die bestehende Realität an.
Eine Erfahrung, die auch Italiens einst so mächtige Großgewerkschaften machen mußten. Zwar hat, nicht zuletzt auf ihr Betreiben, das Parlament ein massives Gesetz gegen die unerwünschte Konkurrenz von der Basis verabschiedet: Danach dürfen Streiks nicht mehr kurzfristig anberaumt werden, sondern sind zwei Wochen vorher mit genauer Angabe der betroffenen Sektoren und der Dauer anzumelden, im öffentlichen Dienst und in „sensiblen“ Bereichen wie Post und Luftverkehr ist eine Zwangsverpflichtung Ausständischer ohne große Formalitäten möglich — ein Aufruf der Regierung über den Rundfunk genügt. Doch daß die ungeliebten Vettern der Basiskomittees mittlerweile bei nahezu allen Verhandlungen mit am Tisch sitzen, konnten die alten Arbeiterorganisationen auch nicht mehr verhindern.
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