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Marx-Kongress in BerlinEin Elend der Philosophie

Am Wochenende ging es an der Humboldt-Universität Berlin um die Aktualität von Marx. Die Differenzen, die sich im Rückgang auf Marx zeigten, waren groß.

BERLIN taz | Den einen Marx gibt es nicht. Wie es auch den einen Kapitalismus nicht gibt. Möchte man aber den Grund finden, von dem aus alle avancierte Theorie im Anschluss an Marx argumentiert, so wäre es die Annahme, dass wir es sind, die alles machen.

Das, so würde der italienische Neomarxist Toni Negri sagen, ist der Materialismus der Freiheit, den uns nur die sozialen Kämpfe lehren, nicht die Philosophie. Und das nicht nur deshalb nicht, weil die Philosophie, wie das Hegel schrieb, wie die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt.

Die Philosophie oder besser die akademische Philosophie tut immer noch gerne so, als hätte sie Zugriff auf den echten Marx. Nicht, weil sie sich völlig zu Recht um die sogenannte historische Last des Leninismus und Stalinismus nicht schert. Das ist nicht ihre Aufgabe. Aber schon die Vorstellung, man könne einen Marx völlig jenseits theoriepolitischer Frontstellungen ausgraben, wie die Organisatorin des Marx-Kongresses "Re-thinking Marx" Rahel Jaeggi es am Wochenende wünschte, ist eine Illusion, auf die glücklicherweise der österreichische Philosoph Oliver Marchart in seinem Panel hinwies. Denn wir können nur durch eine bestimmte Debattenstruktur hindurch auf Marx schauen, so Marchart, in der wie uns immer schon irgendwo verorten.

"Verschiedene Aktualitäten" zusammenbringen

Fünfzig Vortragende waren von Freitag bis Sonntag an der Humboldt-Universität zusammengekommen, allesamt Professoren oder angehende Professoren, um über Marx zu sprechen. Darunter international bekannte Leute wie der Althusser-Schüler und -Mitarbeiter Etienne Balibar aus Paris, die Soziologin Saskia Sassen aus New York sowie die Philosophin Nina Power aus London.

Ein Thema hatte der Kongress nicht. Der Wunsch der Organisatoren war es, "verschiedene Aktualitäten" der Marxschen Theorie zusammenzubringen. Was da vordergründig so gar nicht nach der Suche nach dem einen Marx, sondern wie der korrekte Wunsch nach Offenheit im Diskurs klingt, ließ sich auch als Beliebigkeit deuten, unter der schließlich die akademistische Marxologie so richtig zum Blühen kam. Und so hatte jeder Referent seine ganz eigene Fragestellung mitgebracht, was gar nicht weiter schlimm war, weil es ohnehin kaum Raum für Diskussionen gab, obwohl die großen Abendpanels drei Stunden dauerten.

Die Professoren verlasen ihre Vorträge, einer nach dem anderen, die vielen Lauschenden, die meisten Studenten, kannten das bereits aus ihren Proseminaren, alle schwitzten. Saskia Sassen sprach über Marx Internationalismus im Zusammenhang mit Globalisierung und die Politologin Wendy Brown gestikulierte heftig zu einem Referat über Warenfetischismus und Verdinglichung, die sie gerade erst bei Marx entdeckt zu haben schien. Etienne Balibar wiederholte seine These vom Primat der Kämpfe über das Konstituierte und hätte daher gerne die Bilder der Proteste auf der Plaza Mayor in Madrid hinter sich projiziert gesehen, während der US-Historiker Moishe Postone demgegenüber an der wertkritischen Ausrichtung Marxscher Theorie festhielt.

Suche nach politischer Ontologie

Und somit war man, ohne dass es eine direkte Auseinandersetzung gegeben hätte, freilich schon mittendrin in der theoriepolitischen Frage, ob man der Ökonomie oder der Politik die Vorrangstellung einräumt. Die kleineren Nachmittagspanels, deren Organisation einzelne Wissenschaftler übernommen hatten, erlaubten es schon eher, dieser Fragen in einer Diskussion nachzugehen.

Der Idee, durch einen radikalen Bruch aus der Geschichte aussteigen zu können, für die gegenwärtig der prominente Name Slavoj Zizek steht, verfolgte hier zu Recht niemand. Demgegenüber ging es, wie der Frankfurter Dozent für politische Philosophie Martin Saar ausführte, eher um die Suche nach einer politischen Ontologie, die danach fragt, in welcher Form Marx über Gesellschaft nachdenkt, oder um die Privilegierung des Politischen oder auch postmarxistisch um eine "minimale Politik", die Formen des Aktivismus nicht im Angesicht eines dämonisierten Kapitalismus schmähen muss.

Die Differenzen, die sich im Rückgang auf Marx zeigten, waren groß. Aber das belegt zunächst nur, dass es den einen und authentischen Marx nicht zu entdecken gibt.

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7 Kommentare

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  • P
    Pardon

    Warum hat nicht Robert Misik oder Christian Semler etwas geschrieben?

  • P
    Polia

    Wenn Frau Martini ein Problem mit akademischen Konferenzen hat, dann soll sie nicht hingehen.

     

    "Die Philosophie oder besser die akademische Philosophie tut immer noch gerne so, als hätte sie Zugriff auf den echten Marx." Frau Martini hat mit ihrem Artikel großartig gezeigt, dass sie selbst von diesem Zugriff noch viel weiter entfernt ist.

  • H
    hto

    Wenn GRUNDSÄTZLICH alles allen gehören würde, könnte PRINZIPIELL alles eindeutig-wahrhaftig / menschlicher ORGANISIERT und NICHT wie systemrational-gewohnt VERKOMMEN regiert werden - "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" hätten keine Macht mehr, der geistige Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies" wäre beendet.

     

    Aber weil Mensch im Glauben an "Individualbewußtsein" mit konfusionierender Überproduktion von systematischem Kommunikationsmüll lebt ("gesundes" Konkurrenzdenken im "freiheitlichen" Wettbewerb), ist an wirklichem Verstand von wahrhaftiger Vernunft (geistig-heilendes Selbst- und Massenbewußtsein) nicht zu denken!?

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Karl Marx' 'dialektischer Materialismus' verstehe ich als Einstieg in eine steuerungssystemisch modellierte, kybernetische Evolutionsprozess- und Chaosphysik. Sie begründet eine Gesellschaftswissenschaft, die es ermöglicht, den gesellschaftlichen Veränderungs-/Akzelkerations- und Vervollkommnungs-Prozess mit evolutionsprozess-logischen, KREATIVen Optionen und nicht nur mit KONFLIKTKAMPF- und MACHT-Optionen zu gestalten.

     

    Mit einem hinreichenden Erkenntnisstand auf dem Gebiet der kybernetischen Evolutionsprozess- und Chaosphysik wird das konfliktauflösende Synthese-/KREATIV-Potenzial im Fortschrittsprozess für politische Akteure in der Konkurrenz der Fortschrittsoptionen verfügbar. Das hat kulturrevolutionäre Folgen. Die politischen Reformer werden in der Konkurrenz mit den Machtsystem-Spitzen dominomächtig und damit übermächtig, sobald sie die KREATIVE Geniepunkt-Option für den Exodus aus dem konfliktkämpferisch entstanden, vermachteten Ancien Régime gefunden haben. Den können sie nur via Evolutionsprozess- und Chaosphysik finden. Sie müssen dann nur noch in der Systemkrise des Ancien Régime bereitstehen, um in chaosphysikalisch vorhersehbaren Startszenarien, den vorbereiteten Dominoprozess anzustoßen.

     

    Menschen mit einem hinreichenden evolutionsprozess- und chaosphysikalischen Erkenntnisstand werden - mit evolutionärer Gewissheit - zu erfolgreichen Weltrevolutionären, wenn sie in der vorrevolutionären Lage des Ancien Régime, deren Spitzenvertreter in ihr Geniepunkt-Aktions-und-Panik-Reaktions-Spiel verwickeln, d.h. ständig die Machtfrage mit der erkannten Systemalternative stellen.

     

    Evolutionprozess- und chaosphysikalisch informierte Menschen/Revolutonäre/Philosophen (= KREATIVE EVOLUTIONÄRE) sind mit der übermächtigen Evolutionsprozess-Genialität verbündet - und die drängt immer über die ressourcen-aufwändige, selbstzerstörerische Konfliktkampf-Struktur von These und Antithese hinaus. Auf die KREATIVEN EVOLUTIONÄR wartet die evolutionsprozess-logische Synthese, um sich zu realisieren. Sie löst die aktuellen Spitzen-Antagonismen auf, schafft einen neuen Akzelerationsraum für die gesellschaftlichen Akteure und stiftet Frieden. Auf diese 'Philosophen', auf den KREATIVEN EVOLUTIONÄR zielte Karl Marx mit seiner 11. Feuerbachthese.

     

    Wer bewirbt sich um die Philosophen-Rolle und Synthese-Macht?

     

    In der aktuellen Systemkrise hat sich Sahra Wagenknecht mit ihrem 'KREATIVEN Sozialismus', der den Eukenschen ORDOliberalismus zu Ende denken und fortentwickeln soll, auf die Seite der KREATIVEN EVOLUTIONÄRE geschlagen. Ihr fehlt noch der hinreichende Erkenntnisstand der Evolutionsprozess- und Chaosphysik. Bald wird Angela Merkel sich als KREATIVE EVOLUTIONÄRIN outen und ihren weiterentwickelten ORDOliberalismus vorstellen. Die EURO-Krise ist mit den evolutionären Steuerungssystem-Instrumenten und mit einer 'schöpferischen Zerstörung' des 2%Wachstumszwang-/Ancien-Régime zu beenden. Sie verfügt als Physikerin über die hinreichenden Erkenntnisse und Theorien. Kommt jetzt noch Oskar Lafontaine ist Spiel? Die Konkurrenz lohnt. der Erfolg wartet, denn eine andere Erfolgschance, den Fortschritt in der Industriekultur zu stabilisieren, gibt es nach dem Erkenntnisstand der Evolutionprozess-Physik nicht.

  • Z
    Zoe

    Ein Artikel wie dieser verdient einen Kommentar wie den von Anton - die Rezensentin beklagt oberflächlich die fehlende Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, auf dem Kongress selbst war ihr jedoch alles zu breit, zu philosophisch, zu "beliebig". Was Martini am Kongress in Wirklichkeit gestört hat, hat einen ganz anderen Namen: Pluralismus. Dazu passt es, dass natürlich eine weibliche Referentin ist, deren "wildes Gestikulieren" beklagt wird - man stelle sich den Aufschrei vor, würde derart über Rainer Forst geschrieben werden. Martini und Anton vertreten beide das gleiche maskulinistische Konzept von Marxismus - das zurecht auf diesem Kongress (zumindest meiner Wahrnehmung nach) dankenswerter Weise keinen Platz gefunden hat.

  • DR
    Dr. rer. Nat. Harld Wenk

    Da es sich fast durchweg um Spinozisten handelt, wissen sie: Die Differenzen sind meist scheinbar.

    "Entweder sie meinen das Gleiche oder sie reden über etwas Verschiedenes".

     

    Unter "verschiedene Aspekte" sogar in der breitesten Öffentlichkeit "angekommen".

     

     

    Hoffentlich kommen die Vorträge irgendwie gesammelt heraus.

     

    Insofern ist der "Ansatz" von Rahel Jaeggi erehblich unproblematischer, als es der Artikel sagt.

     

    Verkennen sich doch die Freien Geister meist wegen ihrgendwelcher Kleinigkeiten.

    Eine der "sündhaft teuren" (historisch) "billigen" Erkenntnisse der "Psychologie".

  • A
    Anton

    "Die Differenzen, die sich im Rückgang auf Marx zeigten, waren groß. Aber das belegt zunächst nur, dass es den einen und authentischen Marx nicht zu entdecken gibt."

    Nein, das belegt nur, dass Marx für diese Wissenschaftler nur noch als eine Folie dient, auf der sie eine beliebige Ideologie ausbreiten können. Honneths Anerkennungstheorie oder Deleuzes Wunschmaschinen haben so wenig mit Marx zu tun wie nur irgendwas, was an dem Bedürfnis von "Wissenschaftlern" sich in einen marxschen Kontext zu stellen, leider nichts ändert.

    Mit Elend der Philosophie ist dieser Artikel deshalb passend überschrieben, auch wenn dieses Gelaber über Marx mit Philosophie wenig zu tun hatte.