Martin Reeh über die Absage der NRW-SPD an die CDU: Abkehr vom kleineren Übel
Früher, als die Sozialdemokratie noch groß und mächtig war, trieb das Theorem vom kleineren Übel die Wähler an die Urnen: Was sollte nur werden, wenn CDU und FDP regieren? Das Argument hat an Schlagkraft verloren. Erstens, weil seit der Agenda 2010 für viele nicht mehr klar war, ob die SPD nicht das größere Übel ist. Zweitens, weil seit Angela Merkel die CDU kein Schreckgespenst mehr für potenzielle SPD-Wähler darstellt. Drittens, weil viele gelernt haben, dass man als gelegentlicher Wechsel- oder Nichtwähler mehr Einfluss auf die eigene Partei hat, als wenn man ihr automatisch die Stimme gibt.
Jetzt hat auch für die SPD selbst das „kleinere Übel“-Argument als Schlagkraft verloren. In NRW schließt sie eine Koalition mit der CDU definitiv aus. Dabei gäbe es gute Gründe für die SPD, als Juniorpartner weiter zu regieren: Die FDP will Studiengebühren einführen, die Mietpreisbremse aufheben und die Vergabe von Landesaufträgen nicht mehr an tarifvertragliche Regelungen knüpfen. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird sie zumindest einen dieser Punkte auch durchsetzen.
Offiziell argumentiert die SPD, man wolle jetzt erst einmal geordnet die eigene Wahlniederlage aufarbeiten. Aber in Wirklichkeit hofft sie auf taktische Vorteile: Im gesamten Bundestagswahlkampf kann sie vor Schwarz-Gelb warnen, falls die CDU der FDP bei Studiengebühren oder Mietpreisbremse nachgibt. Außerdem verfügen CDU und FDP nur über eine Stimme Mehrheit im neuen Landtag – die Gefahr des vorzeitigen Scheiterns einer solchen Koalition ist groß. Und es könnte sichtbar werden, wie dünn die Personaldecke der FDP hinter der One-Man-Show Christian Lindner ist.
Die langfristigen Vorteile für die SPD, in die Opposition zu gehen, überwiegen also. Kurzfristig ist es aber wie immer, wenn man die Kleinere-Übel-Theorie ad acta legt: Irgendjemand wird wohl dafür bezahlen müssen: die Studierenden, die Mieter oder die Beschäftigten bei Landesaufträgen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen