: Marlenes blaue Augen
■ Die Regisseurin Annelie Runge zeigt Barmherzige Schwestern
Ein wenig Pfeilgift in die Adern, und der Patient fühlt sich – nach kurzer Gegengiftspritze – wie neugeboren. Mit dieser Schocktherapie erzieht Schwester Marlene nörgelnde Nierensteine zu Dankbarkeit. Dem Herzinfarkt, der sie „90-66-90“ nennt, tut sie zur Strafe einen großen „Gefallen“ – und fährt ihn mit Blaulicht ins Bordell.
Wie leicht verordnete Nächstenliebe in Haß umschlägt, warum Krankenschwestern sogar zu Todesengeln werden, weiß die 52jährige Regisseurin Annelie Runge aus eigener Berufserfahrung (ohne Mordopfer, versteht sich). Ihre Barmherzigen Schwestern sind eine sarkastische Antwort auf Horrorszenarien, wie Zeitungen sie im Altersheim-Skandal zeichneten, und entlarven gleichzeitig die Lügen, die Arzt-Romane und -TV-Serien über Dr. Brinkmänner und ihre Schwesternliebe verbreiten.
Marlene (Anne Kasprik), Louise (Nina Petri), Klara und Marcia leben und arbeiten in den 60er Jahren, als dank weniger High-Tech noch mehr Krankenpflege möglich war. So bleibt Zeit fürs Schmusen mit Säugling und Greis, das eine Handkamera liebevoll und gemütlich begleitet. Diese Liebe reicht den Krankenschwestern begreiflicherweise nicht, darum tragen sie unter den Kitteln ihre besten Dessous und träumen vom Dienstschluß. Bis auf Marlene, die aus ganzem Herzen klinisch lebt und entsprechende Gegenliebe fordert. Aber bei den Männern im richtigen Alter hat sie kein Glück. Die Patienten danken die Fürsorge mit Anmache und Tellerwerfen, den Assistenzarzt läßt ihre Zuneigung kalt, und der Professor quittiert fachliche Ratschläge mit lebensgefährlicher Ignoranz. Immerhin versuchen die Krankenbesucher, sich mit Kuchen und Pralinen bessere Pflege für die Angehörigen zu erkaufen. Dafür, daß der todkranke Freund gut behandelt wird, aber nicht besucht werden muß, gibt's sogar einen Schein. Rachegelüste werden wach.
All die kleinen Geschichten und Intrigen in der „Medizinischen Klinik“ sind detailgenau erzählt und sorgfältig geschauspielert, was ein entsprechendes Schauen erfordert. Tief hinein in Marlenes blaue Augen, die konzentriert auf die Spritze starren . . .
May Mergenthaler
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