Markus Lanz im Gespräch über den Krieg: Abschied von einer Lebenslüge

Wie hat sich das politische Gespräch in Deutschland durch Russlands Krieg verändert, Markus Lanz?

»Ich habe selber in der italienischen Armee gedient«: Markus Lanz in den Räumen seiner Produktionsfirma in Hamburg Foto: Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

taz FUTURZWEI: Lieber Herr Lanz, Sie moderieren die führende Politik-Gesprächssendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, können Sie sich daran erinnern, dass es jemals zuvor eine solche Hochgeschwindigkeits-Normung von Meinungen gegeben hat, wie wir sie nach Putins Überfall auf die Ukraine im Frühjahr erlebt haben?

Der Mann: Journalist, Talkshowmoderator (Markus Lanz im ZDF) und Inhaber einer Fernsehproduktionsfirma.

Geboren 1969. Bergbauernkind aus Gassl im Pustertal (Italien). Verheiratet mit einer Frau, drei Kinder. Lebt und arbeitet in Hamburg.

Das Werk: Die politische Gesprächssendung Markus Lanz kommt Dienstag bis Donnerstag gegen 23 Uhr im ZDF. Sie läuft seit 2008 und entwickelt sich von einer 08/15-Einschlafunterhaltung zum führenden Ort des politischen Gesprächs im deutschen Fernsehen. »Lanz und seine Redaktion haben ein Format des Politikergesprächs entwickelt, das in Deutschland seinesgleichen sucht«, schrieb die taz.

Markus Lanz: Ja, das Tempo ist atemberaubend, und mich erstaunt vor allem der Blick auf die Grünen. Denken Sie mal an letzten Sommer: Mitten im Wahlkampf denkt Robert Habeck laut über Waffen für die Ukraine nach. Der lauteste Aufschrei kam damals aus seiner eigenen Partei. Nur zehn Monate später reist Anton Hofreiter ins Kriegsgebiet und argumentiert wenig später bei uns in der Sendung sehr eindringlich für schweres Gerät, eingeleitet mit den Worten: »Ich bin ja kein Waffenexperte …« Und dann beschrieb er jede Waffe und jedes Kaliber so genau, dass mir die Spucke wegblieb. Ich sagte: »Dafür, dass Sie nichts über Waffen wissen, wissen Sie ganz schön viel.« Interessant war, wie er das begründete. Er sagte, die Grünen seien eben nicht nur die Partei des Pazifismus, sondern auch die Partei der Menschenrechte. Wenn also Menschrechte so massiv verletzt werden wie jetzt in der Ukraine, haben wir die Pflicht zu helfen. Das ist die politische Ebene.

Was ist die andere Ebene?

Mir fiel schon sehr früh auf, dass gerade junge Menschen – ich meine damit die Generation meines Sohnes, die Generation rund um 20 – sehr klar dafür sind, den Ukrainern zu helfen, und zwar nicht verhalten, vorwärts tastend, sondern massiv, bis hin zu Flugverbotszonen. Das kann man auch im Netz sehr eindrucksvoll sehen: Selenskjy wird dort als Held gefeiert, bekannte Influencer zeigen sich mit Sturmhauben, in den USA spricht man vom ersten »TikTok-Krieg der Geschichte«. Das hat mich erstaunt, und mittlerweile wurde das Phänomen auch mehrfach beschrieben. Das mag daran liegen, dass diese Generation weit weg ist vom Krieg. Aber ich glaube, sie hat auch ein unglaublich tiefes moralisches Empfinden, viel tiefer als ich mit zwanzig. Da gibt es eine Sehnsucht nach Klarheit, nach Eindeutigkeit. Das ist beim Klima so, das ist auch hier so. Und ich gebe ehrlich zu: Mich beeindruckt das. Und es hat dazu geführt, dass ich mich selbst hinterfragen und neu kalibrieren musste. Ich habe da, wie wir alle, länger mit meiner Position gerungen.

Wie haben Sie gerungen?

Am Anfang vor allem im Austausch mit Richard David Precht, der die Dinge etwas anders sieht und die sehr berechtigte Angst hat, dass wir am Ende alle immer tiefer in einen Krieg und in ein ungeheures Blutvergießen hineintaumeln. Ich hielt mich immer für einen Pazifisten, doch dann kam mein Sohn mit George Orwell und dessen Gedanken, wonach Pazifismus nichts anderes sei als Faschismus. Er legte mir eines Tages ein kleines, grünes Büchlein auf den Tisch: Orwells Essay Über Nationalismus. Ich kannte das gar nicht. Orwell hat es 1945, also unter dem direkten Eindruck der Weltkriegskatastrophe geschrieben. Pazifisten, so heißt es dort, würden immer argumentieren, im Krieg sei die eine Seite genauso schlimm wie die andere. Und er sagt darin, viele linke Intellektuelle würden sich mit ihrem Pazifismus immer gegen Amerika richten, aber seltsamerweise nie gegen Russland. Für Russland hätten sie immer Verständnis. Kommt einem so bekannt vor, oder?

»Objektiv betrachtet ist der Pazifist pro-nazistisch«, schreibt Orwell, der von pazifistischen Haltungen gegenüber Hitler geläutert wurde.

Ich habe selber in der italienischen Armee gedient und habe dort einmal mit einem Gewehr und einmal mit einer Maschinenpistole geschossen, für mehr reichte die Munition nicht. Und für mich war immer klar, wenn es Krieg gibt und irgendjemand drückt mir ein Gewehr in die Hand, haue ich sofort ab. Niemals würde ich in den Krieg ziehen. Für nichts und niemanden. Daran habe ich geglaubt bis zum 24. Februar 2022. Seitdem nicht mehr.

Damit sind wir mitten im Problem. Durch die Wokeness-Diskussion der letzten Jahre gibt es eine sehr große Prominenz der Perspektive des Opfers. Auch ich führe mit meinem Sohn Gespräche, und was ich bei den Twentysomethings beobachte, ist eine Wichtigkeit der Opferperspektive, gegen die man kaum noch argumentieren kann. Auch in Sendungen wie Ihrer ist es oftmals so, dass Opfer zugeschaltet sind oder dabeisitzen. Gleichzeitig sind Akteure da, welche die deutsche Politik direkt zu verantworten haben. Daraus entsteht eine enorme Drucksituation, die bestimmte Argumentationen verhindern kann. Ich glaube, die deutsche Politik war noch nie so unter Druck wie in diesen Wochen.

»Robert Habeck hat den Zweifel zum politischen Prinzip gemacht.«

Markus Lanz

Sie haben völlig recht, und trotzdem sehe ich es anders. Ich finde es beispielsweise bedauerlich, dass so gut wie nie Ukrainerinnen oder Ukrainer im Fernsehen auftreten, die nicht Melnyk oder Klitschko heißen. Und seien wir ehrlich: Manche Diskussion ist ganz schön abgehoben. Ja, es geht um die ganz großen Begriffe Krieg und Frieden, doch letztlich muss man es meiner Meinung nach auf eine Frage herunterbrechen: Dürfen wir, die wir immer so gerne unsere Werte beschwören, es wirklich zulassen, dass eine arme Frau, die für einen russischen Panzerfahrer nun wirklich keine Bedrohung darstellt, weil sie nichts in der Hand hat außer einer Einkaufstüte, einfach vom Fahrrad geschossen wird? Müssten wir da nicht eingreifen, wenn wir das mit den Menschenrechten ernst meinen? Und wenn wir es nicht tun: Müssen wir ihr dann nicht eine Waffe geben, damit sie sich wenigstens selbst verteidigen kann?

Was ist Ihre Antwort?

Mit Marieluise Beck ...

... Gründerin des Thinktanks Liberale Moderne, die sich seit Jahren für freien Gesellschaften in Osteuropa- und speziell der Ukraine engagiert ...

... habe ich genau hierüber geredet. Im Bosnienkrieg und bei der Belagerung von Sarajevo wurde immer gesagt: »Keine Waffen in Kriegsgebiete.« Und Frau Beck sagt, genau das war der Freibrief für die serbische Armee. Die wussten: Die können sich nicht wehren. In ihrer Verzweiflung haben die Bosnier damals angefangen, Straßenlaternen abzusägen und Schießpulver in die Rohre zu stopfen. Und wir haben drei Jahre lang zugesehen, bis irgendwann die Amerikaner sagten, dass es so nicht weitergeht. Aber es war ein Krieg vor unserer, vor der deutschen Haustür. Dann kam Syrien und Frank Walter-Steinmeier ...

... damals Außenminister und Vizekanzler für die SPD ...

... sagte immer wieder, dass man diesen Konflikt nicht militärisch lösen könne. Ich habe damals manchmal gedacht: Es gibt bestimmt gute Gründe, das so zu sehen, aber müssten wir es angesichts der unglaublichen Gewalt nicht irgendwann wenigstens versuchen? Am Ende wurde es dann militärisch gelöst, leider von den Falschen, nämlich von Putin und Assad. Und auch sie hatten durch unsere Haltung faktisch den Freibrief, eine syrische Stadt nach der anderen vollkommen zu zerstören. Von Aleppo war nichts mehr übrig. Und das schreckliche Ergebnis ist, dass Assad heute wieder fest im Sattel sitzt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht jeden respektiere, der eine klare Haltung gegen eine militärische Intervention hat. Ich schätze beispielsweise den SPD-Politiker Ralf Stegner, der konsistent bei seiner Position bleibt: Wer Waffen liefert, muss damit rechnen, selbst irgendwann in die Mündung genau dieser Waffen zu schauen. Dafür reicht ein Blick nach Afghanistan. Ich glaube allerdings, was die Öffentlichkeit aufwühlt, ist, wenn Politiker im Fernsehen erklären, sie würden alles tun, um der Ukraine zu helfen, während sie eigentlich versuchen, sich rauszuhalten. Das nehmen die Menschen als unaufrichtig war, und da entsteht ein Problem.

Ich erlebe es so, dass in der Medienblase die Position, die Sie gerade beschrieben haben, ein Konsens ist. Ich habe das kritisiert und habe selten so viel Zuspruch aus den Normalo-Ebenen bekommen. Hauptsächlich von Menschen, die sich irritiert darüber zeigen, dass die Meinung in der Medienszene so einheitlich ist und einfach eine große Angst vor einer Eskalation des Krieges haben.

Ich habe Respekt davor, wenn Menschen sagen, wir sollten einen klaren Kopf bewahren, damit die Situation nicht weiter eskaliert. Aber ich sehe eben auch, was unmittelbar passiert. Gegenfrage: Wenn das Reden über Freiheit und Humanität nicht nur eine Floskel bleiben soll, haben wir dann nicht die Pflicht, uns klar zu bekennen? Vor allem auch als Deutsche?

Sie sind deutscher Staatsbürger?

Ja, ich habe die deutsche und die italienische Staatsbürgerschaft.

Foto: Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

Sie sind auch deutscher Verfassungspatriot?

Ich höre den Unterton …

Sie lachen?

Patriotismus ist mir tatsächlich sehr vertraut, und er war mir nie verdächtig. Wenn man wie ich in dieser unglaublich schönen Südtiroler Landschaft aufwächst, dann hängt man an seiner Heimat. Ich habe allerdings ein Problem mit Nationalismus. Patriotismus ist seinem Wesen nach defensiv, Nationalismus dagegen ist aggressiv und destruktiv – so definiert Orwell das. Die beiden Begriffe werden häufig gegeneinander ausgespielt. Man sieht am russischen Narrativ, dass der Weg von den Nationalisten zu den Nazis kurz ist, – und damit sind wir mitten in der russischen Propaganda. Ich würde den Ukrainern aber vor allem Patriotismus unterstellen. Das ist etwas anderes.

Wie meinen Sie das, wenn Sie sagen: Wir müssen uns als Deutsche bekennen?

Wir versuchen gerade, in der Frage der Waffen moralisch möglichst makellos zu bleiben, während wir gleichzeitig sagen, dass wir uns ein Gasembargo nicht leisten können, weil es deutschen Wohlstand wohl substanziell zerstören würde. Es gab diesen besonderen Moment bei uns in der Sendung, als Wirtschaftsminister Robert Habeck das sehr eindrucksvoll erklärte. Es war eine ganze Kaskade von Argumenten, bis an den Punkt, an dem er sagte, dass eine Schwächung der Stahlindustrie in letzter Konsequenz auch bedeuten würde, dass keine Panzer und Waffen mehr gebaut werden könnten. Konsequent zu Ende gedacht: Um den Ukrainern weiterhin bei der Selbstverteidigung helfen zu können, müssen wir noch eine ganze Weile Putins Gas kaufen, so bitter das ist. Das ist das, womit die deutsche Politik gerade ringt. Es war die Sendung, in der Habeck wenig später diesen mittlerweile sehr bekannten Satz sagte: »Ja, das ist schmutzig und dreckig, und wir kommen da nicht sauber raus.« Oder um es mit Marieluise Beck zu sagen: »Wollen wir wirklich zulassen, dass in diesem Sommer in der Ukraine vergewaltigt und gemordet wird, während wir unseren Bauch auf Lanzarote bräunen?«

Das ist auch eine doppelte Buchführung, denn was interessiert uns das, was im Jemen seit sieben Jahren passiert? In diesem Krieg aber wird durch eine bestimmte Nutzung von Medien Identifikation mit den Opfern hergestellt, die den Syrern nie gelungen ist.

Ja, aber am Ende liegen Menschen mit dem Gesicht nach vorne im Dreck. Und das eine Unrecht mit dem anderen zu entschuldigen, ist kein gutes Argument. Weil Sie Syrien erwähnen: Es gab gleich zu Beginn des Krieges ein Interview mit einem Syrer, der sagte: »Das einzig Gute an diesem Krieg ist, dass die Welt jetzt endlich erfährt, zu welchen Grausamkeiten die Russen fähig sind. Uns hat man nämlich nie geglaubt.« Das fand ich bitter.

Im Moment läuft ein Erkenntnisprozess. Die unausgesprochenen Wirklichkeiten hinter der Energiewende werden sichtbar, etwa die Voraussetzungen von Brückentechnologien wie Gas. Ich bin noch nie in meinem Leben auf die Idee gekommen, den Bundeskanzler zu verteidigen, aber ich verstehe die Abwägung zwischen der verantwortungs-ethischen Perspektive und der Frage danach, wie eine Entgrenzung des Krieges verhindert werden kann. Wenn die Frage nicht gestellt wird, kann dadurch die Zahl der Opfer noch vergrößert werden. Aber es ist immer eine zynische Situation, auch im Argumentieren. Die Kriegsgewalt hat eine eigene Dynamik, die sich von allem anderen Gesellschaftlichem unterscheidet.

Das stimmt, und deshalb ist Klarheit im Moment so wichtig wie selten zuvor. Mir geht es nicht darum, die Sorge von Olaf Scholz in Frage zu stellen, im Gegenteil, ich kann sie sehr gut nachvollziehen. Aber ich glaube, er müsste seine Position deutlicher artikulieren.

Inwiefern hat sich das politische Gespräch verändert, grundsätzlich und konkret in Ihrer Sendung? Das alte Gespräch dreht sich zu oft nicht um das aktuelle Problem, sondern um den Abstand von alten Positionen, konkret: Du bist ein Grüner und 1979 warst du Pazifist, und jetzt willst du Waffen in die Ukraine liefern oder willst Gas beim Emir von Katar kaufen, obwohl die Menschenrechte dort problematisch sind?

»Für mich war immer klar, wenn es Krieg gibt und jemand drückt mir ein Gewehr in die Hand, haue ich sofort ab. Daran habe ich geglaubt bis zum 24. Februar 2022. Seitdem nicht mehr.«

Markus Lanz

Ich finde es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, die Leute mit ihren Widersprüchlichkeiten zu konfrontieren. Aber in der von Ihnen angesprochenen Sendung mit Robert Habeck hatte er die Gelegenheit, seine Position mit all seinen Qualen und Zweifeln darzustellen. Daraus entstand ein Erkenntnisgewinn: Der Unterschied zwischen politischen Idealen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde deutlich. Es wäre ein Leichtes gewesen, daraus ein polemisches Gespräch zu machen in der Art, wie Sie das beschreiben. Das habe ich aber bewusst nicht gemacht, weil ich seit dem Beginn dieses Krieges das Gefühl habe, dass die Sendung anders geführt werden muss.

Wie anders?

Ich habe das Gefühl, dass jeder begriffen hat, wie existenziell diese Situation ist, nicht nur für die Ukraine, sondern für uns alle. Der Ernst dieser Situation lässt keinen Platz für Spielchen oder Polemik. Es geht eher darum, Raum für Erklärung zu geben. Es gab doch immer zwei große Leitlinien deutscher Politik. Erstens: »Nie wieder Krieg« und zweitens: »Nie wieder Auschwitz«. In Friedenszeiten funktioniert das. Aber was, wenn plötzlich ein ganzes Land angegriffen wird und Tausende ermordet werden? Dann prallen diese beiden Prinzipien plötzlich hart aufeinander: Kein Krieg, kein Eingreifen, keine Militärhilfe? Oder die Pflicht, Menschen nicht im Stich zu lassen? Was wiegt schwerer?

Der harte Teil Ihrer Interview-Technik besteht unter anderem aus dem Unterbrechen bei Schwafel-Gefahr und dem Insistieren, also fünfmal die gleiche Frage stellen. Haben Sie das verändert, um diese neue Art des Gesprächs hinzubekommen?

Ja, wobei ich bei Schwafel-Gefahr weiterhin versuchen werden, für Klarheit zu sorgen. Widersprüchlichkeiten versuche ich immer klar zu benennen, aber ich habe das Gefühl, gerade ist die Zeit für noch mehr Erklärung und Differenzierung. Und gerade dann, wenn es besonders hitzig wird.

Das politische Gespräch bei Lanz ist also ein anderes als noch im letzten Jahr?

So nehme ich das wahr, ja, die Sendung wird von einer gewissen Nachdenklichkeit getragen, von langsam entwickelten Argumenten. Es ist ja nicht leicht, sich von einer schönen Illusion, einer Lebenslüge zu verabschieden, oder? Ich empfinde das jedenfalls als bittere Lektion. Und gerade unsere Generation hat dabei ja auch immer die deutsche Geschichte im Hinterkopf.

Aber Sie erleben doch sicher auch viele, die innerhalb kürzester Zeit ihre Meinung gewendet haben, teilweise auch, obwohl sie als nunmehr oppositionelle CDU-Politiker den gleichen Dreck am Stecken haben, wie diejenigen, gegen die sie jetzt vorgehen.

Haben Sie wirklich das Gefühl, dass das gerade stattfindet? Ich sehe das anders. Der Schock sitzt tief, nicht nur über das, was passiert ist, sondern auch über die eigene Fehleinschätzung.

Der Wendehals ist eine Sozialfigur, die eigentlich aus totalitären Gesellschaften kommt und nach Systemwechseln auftritt. Gibt es jetzt auch Wendehälse? Sind das Opportunisten oder brauchen wir jetzt Wendehälse?

Nichts wäre leichter, als den Grünen vorzuwerfen, dass sie Wendehälse sind. Aber warum fällt es ihnen dann nicht auf die Füße? Vielleicht, weil jeder spürt, dass es sich im Moment keine Politikerin, kein Politiker leicht macht? Geschätzt zweieinhalb Millionen Menschen habe in der vorhin zitierten Sendung Robert Habecks bebende Unterlippe gesehen, und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre von seinen Gefühlen überwältigt worden. Die Bilder machten klar, unter welchem Druck die Leute an der Spitze des Landes gerade stehen. Die Zuschauer konnten Robert Habeck in seiner ganzen Zerrissenheit erleben. Er hat den Zweifel zum politischen Prinzip gemacht.

Und das ist cool?

Das Interessante ist, dass es bei einem Großteil der Bevölkerung als »cool« ankommt. Und ich vermute, die Leute nehmen das deshalb so gut an, weil es genau der Zweifel ist, der sie auch selbst fast zerreißt.

Und weil sie klug genug sind in einer Situation, in der es kein Rezept gibt, nicht zu erwarten, dass jemand eins erfindet.

Genau. Es kommt noch etwas dazu: Die Leute nehmen Robert Habeck in dem Moment als aufrichtig wahr. Selbstverständlich ist Olaf Scholz genauso aufrichtig, aber er bleibt eher im Vagen. Vermutlich deshalb, weil ihn dann hinterher niemand auf eine Position festnageln kann. Das ist vielleicht politisch klug, aber auch so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Leute als Führung wahrnehmen.

Definitiv kein Wendehals ist der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Der blieb in Ihrer Sendung unerschütterlich bei seinen Überzeugungen von gestern und war auch überhaupt nicht bereit, darüber selbstkritisch nachzudenken.

»Die Sendung wird von einer gewissen Nachdenklichkeit getragen, von langsam entwickelten Argumenten. Es ist nicht leicht, sich von einer schönen Illusion, einer Lebenslüge zu verabschieden, oder?«

Markus Lanz

Ja, das Gespräch hat mich an das von Frank Walter-Steinmeier im Spiegel erinnert, das irgendwie gereizt und schlecht gelaunt wirkte. Es ist ja auch bitter: Die Überzeugungen von gestern waren doch die richtigen – und trotzdem waren sie falsch. Putin hat alle belogen. Interessant wäre es in dem Zusammenhang mal Angela Merkel zu hören, die so lange darauf pochte, dass Nord Stream 2 ein privatwirtschaftliches Projekt sei. Manchmal denke ich, das ist eigentlich auf fast unheimliche Weise Chaos-Theorie: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Orkan in Texas auslösen. Übertragen auf die deutsche Politik: Weil die CDU alles tun will, damit Stefan Mappus nicht die Wahl in Baden-Württemberg verliert, steigt Deutschland völlig überhastet aus der Atomenergie aus und macht sich komplett abhängig von russischem Gas. Und am Ende ist Krieg in der Ukraine.

Das ist sehr zugespitzt.

Ja, bestimmt, und ich bin auch kein Historiker, aber dass diese historisch einmalige Abhängigkeit von russischer Energie etwas mit dem Atomausstieg zu tun hat, ist wohl kaum zu bestreiten. Man hat das damals mit Fukushima begründet, aber das Seltsame war: Wir hier in Deutschland stiegen aus, weil im fernen Japan ein Atomkraftwerk havarierte, Japan dagegen betreibt bis heute Reaktoren.

Sie haben sich in den letzten Jahren als Figur immer stärker in das Gespräch eingebracht. Ist das State of the Art oder ergibt sich das daraus, dass Sie sich im Zuge der eigenen Politisierung immer intensiver mit der globalen geopolitischen Lage beschäftigten?

Eigentlich geht es nur um das dialektische Moment. Wenn jemand A sagt, dann weise ich darauf hin, dass es auch B gibt. Und wenn dann jemand zu mir sagt, gestern hast du aber selber noch A gesagt, dann liegt eigentlich ein Missverständnis vor. Es geht nicht um die Frage, was meine persönliche Position ist, sondern darum, auf alle Aspekte hinzuweisen. Eigentlich wollen wir nur, dass die Leute ein paar Dinge gelernt haben, wenn sie den Fernseher ausmachen.

Es gab einen Shitstorm, als Sie Anfang April eine ZDF-Kollegin fragten, wann man noch Reporterin ist und wann man Teil der »ukrainischen Propaganda« wird?

Ich habe unsere Korrespondentin Katrin Eigendorf explizit danach gefragt, wie bestimmte Bilder entstanden sind, und das Wort Propaganda kam aus meinem Mund, als klar wurde, dass es einen ganzen Bus mit etwa 50 Kollegen gab, die zu den Toten in den Straßen von Butscha gefahren wurden, um diese Fotos zu machen. Schon während der Sendung habe ich gesagt, dass dies ein unglücklicher Begriff ist. Aber die Kritik an dem Vorgang würde ich nicht zurücknehmen.

Foto: Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

Was meinten Sie genau?

Ich habe als Medienschaffender ein Problem mit diesen wirklich harten, expliziten Bildern, weil auch Tote Persönlichkeitsrechte haben. Und vielleicht gerade sie! Ich habe ein Problem mit dem Foto dieser armen Frau, deren Hand aus nächster Nähe fotografiert wurde, mit dem Fokus auf ihrem abgesplitterten Nagellack, der Handrücken im Schlamm der Straße. Erst später haben wir erfahren, dass sie Irina hieß und offenbar mit dem Fahrrad vom Einkaufen nach Hause fuhr, als sie um die Ecke bog und von einem russischen Panzer vom Fahrrad geschossen wurde. Das erste Bild erzählte aber von alledem nichts, trotzdem wurde es überall gezeigt. Ich finde, da wurden rote Linien überschritten.

Gewaltpornographie.

Hartes Wort, aber so ist es. Ich frage mich: Wem nützt das? Die Frau war auf Titelseiten ohne, dass ihre Identität klar war. Da wurden Opfer ein zweites Mal zu Opfern, sie wurden in gewisser Weise benutzt. Aber Menschen haben eine Würde. Grauen kann man auch anders dokumentieren.

Für die Regionalzeitung Frankfurter Rundschau war Ihre Frage eine »Entgleisung, die so manchen anderen westlichen Journalisten den beruflichen Kopf hätte kosten können«. Dabei muss doch jedem medienkompetenten Menschen klar sein, dass gerade auch die Ukrainer vieles tun und tun müssen, um die allgemeine Meinung in Ihrem Sinne zu beeinflussen.

Genau, das ist der Punkt.

Über den Krieg der Bilder und der Sprache wird nicht mehr gesprochen. Genau die von Ihnen thematisierte Form des Entstehens von Bildern hat man im Irak-Krieg als embedded journalism hart kritisiert.

Es ist wichtig, über die gezeigten Bilder nachzudenken. Und darüber, wie sie entstehen. Als ich angefangen habe, beim Fernsehen zu arbeiten, gab es immer wieder intensive Diskussion darüber, wie man mit Bildern von Toten umgeht. Der Mindeststandard war, zu wissen, was die Geschichte dahinter ist und wer da zu sehen sind. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir noch nicht mal mehr versuchen, den Menschen einen Namen zu geben und damit ihrem Leben irgendwie gerecht zu werden. Es wird so getan, als wäre das Zeigen dieser Bilder sogar moralisch geboten. Es stimmt, dass das Grauen der Weltöffentlichkeit gezeigt werden muss, aber es geht um die Art und Weise, wie man das macht. Aber vielleicht bin ich da auch zu sensibel oder zu altmodisch.

Unser Vorurteil ist, dass Sie Gäste unterstützen, die gegen die als zögerlich gescholtene SPD mehr militärische Hilfe fordern. Richtig?

Falsch. Tatsächlich ist mein Gefühl gerade, dass sich speziell die CDU gerade nicht um Plätze in der Sendung reißt. Ironischerweise fällt der CDU das mittlerweile sogar selbst auf: Ich wurde von mehreren Leuten aus der CDU gefragt, warum wir sie denn nicht mehr einladen …

»Ich habe Melnyk auch gesagt, dass ich es nicht richtig finde, wie hart er mit den Deutschen ins Gericht geht.«

Markus Lanz

Warum lachen Sie?

Zeitweise war es wirklich schwierig, Leute zu finden, die explizit gegen Waffenlieferungen sind und dies auch sagen wollen. Niemand traute sich.

Wofür wurden Sie sonst noch besonders kritisiert?

Das erste Interview bei uns in der Sendung mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk hat ungewöhnlich viele Reaktionen ausgelöst. Er forderte Waffen, und ich habe ihm ein paar kritische Fragen dazu gestellt, dass die Ukraine selbst bis vor einiger Zeit ein wichtiger Rüstungsexporteur war und im Besitz von Waffensystemen ist, die sie unter anderem mit der Türkei entwickelt hat. Auf der Rüstungsmesse in Abu Dhabi konnte man das sehen. Das passte nicht zu den Bildern von Ukrainern, die mit Holzgewehren übten. Und es hat sich dann im Kriegsverlauf ja auch gezeigt, dass die Ukraine glücklicherweise viel wehrhafter ist als angenommen. Ich habe Melnyk auch gesagt, dass ich es nicht richtig finde, wie hart er mit Deutschland ins Gericht geht. Denn der Aggressor ist immer noch Russland. Natürlich verstehe ich seine Wut und seine Trauer: Er kämpft für sein Land, er kennt die vielen traurigen Geschichten, die Kriegsverbrechen, die Toten. Aber mich hat dieser Unterton gestört, der manchmal so klang, als sei Deutschland irgendwie auch Täter.

Wir Bundesdeutsche haben als Nachfahren der Täter eine besondere Verantwortung.

Vielleicht konnte ich das genau deswegen so frei aussprechen, weil ich einen anderen Hintergrund habe und nicht in diesem Land aufgewachsen bin. Vielleicht habe ich ein anderes Gerechtigkeitsempfinden diesem Deutschland gegenüber, weil ich ihm so viel verdanke.

Um mal den berühmten Lanz-Kniff anzuwenden und Sie mit einer Position aus der Vergangenheit zu konfrontieren: Sie haben 1995 den Song Fuck Chirac! veröffentlicht, dieser war ein Protest gegen französische Atombombentests im Südpazifik. Wie stehen Sie heute dazu?

Politisch immer noch richtig. Musikalisch leider etwas karg, um nicht zu sagen: grottenschlecht …

INTERVIEW: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.

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