Marine Le Pen will ihren Vater beerben: Die Rakete
Machtwechsel beim Front National in Frankreich. Marine Le Pen ist Favoritin auf die Nachfolge ihres Vaters Jean-Marie. Und tritt dabei als Vertreterin der französischen Arbeiterschaft auf.
PARIS taz | Marine Le Pen wirkt normalerweise sehr kühl, dieses Mal aber war sie sichtlich gerührt. Es gehe ihr wirklich ans Herz, dass ihr Vater nun zum letzten Mal als Parteipräsident des Front National (FN) seinen Anhängern seine Neujahrswünsche überbringe, sagte sie.
Freilich kann sie sich damit trösten, dass sie beim Kongress in Tours am Wochenende mit großer Wahrscheinlichkeit den Vorsitz erben wird. Jean-Marie Le Pen hat bei seinem Auftritt mit seiner politischen Neujahrsbotschaft an die Presse vor wenigen Tagen noch einmal deutlich gemacht, wie sehr ihm daran liegt, dass mit der Wahl seiner jüngsten Tochter Marine zur Vorsitzenden der von ihm gegründete FN in der Familie bleibt.
Dieser Auftakt zum Führungswechsel fand bei einem Empfang der Medienleute in der neuen FN-Parteizentrale in Nanterre statt. In diesem immer noch von den Kommunisten regierten Vorort im Westen von Paris hagelte es anfänglich Proteste, als der FN aus dem vornehmen Saint-Cloud ausgerechnet in dieses unschöne zweistöckige Haus an der Rue des Suisses in der proletarischen "Banlieue" umsiedelte.
Der historische FN-Sitz muss zur Tilgung von Schulden aus früheren Wahlkämpfen verkauft werden. Die Diskrepanz zum luxuriösen "Paquebot" (Passagierschiff) in Saint-Cloud, an dessen Fassade noch immer ein Wahlslogan der Präsidentschaftskampagne von 2007 prangt, ist augenfällig.
Wie einst Edith Piaf im Refrain ihres bekanntesten Chansons "Non, je ne regrette rien" gesungen hat, bereut und bedauert auch Jean-Marie Le Pen nichts, überhaupt nichts im Rückblick auf seine vierzigjährige Karriere. Und schon gar nicht die diversen geschmacklosen, rassistischen und antisemitischen verbalen Entgleisungen oder die Verharmlosung von Nazi-Verbrechen, die ihm in der Vergangenheit mehrere Prozesse und auch Verurteilungen eingebracht haben.
Die Gaskammern in den Konzentrationslagern bezeichnete er als "Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs", zur Besetzung Frankreichs meinte er, sie sei ja "nicht besonders inhuman gewesen". Im Jahr 1971 brachte sein Verlag SERP eine Schallplatte mit dem ins Deutsche übersetzten Titel "Das Dritte Reich. Stimmen und Lieder der deutschen Revolution" heraus. Nie bewiesen wurden hingegen Anschuldigungen, wonach Le Pen selbst im Indochina- und Algerienkrieg an Folterungen beteiligt gewesen sei. (rb)
Ein Zufall war die Standortwahl in Nanterre keineswegs. Die Partei des Millionärs Le Pen will sich sichtbar bescheidener geben, denn sie beansprucht für sich, die Interessen der französischen Arbeitnehmer zu verteidigen – gegen Immigranten, gegen die EU, gegen das "Establishment" der traditionellen Parteien von links und rechts. Laut Wahlanalysen bekommt keine andere Partei so viele Stimmen aus Arbeiterkreisen wie der FN.
Im nüchternen Vorortsgebäude, in dem trotz einer Abschiedsrede des 82-jährigen Jean-Marie Le Pen keine dem Anlass entsprechende feierliche Stimmung aufkommen wollte, wischte sich Tochter Marine also eine Träne aus dem Gesicht. Und jeder unter den Journalisten, der sie als kompromisslose und gelegentlich sogar kaltschnäuzig auftretende Politikerin kannte, fragte sich unweigerlich, wie authentisch diese Rührung wohl war.
Die vom abtretenden Chef mit seiner üblichen Autorität geleitete Zeremonie konnte nicht ganz überdecken, dass hinter den Kulissen seit Wochen ein erbitterter Kampf um seine Nachfolge tobt.
Als Le Pens treuester Mitstreiter galt der Lyoner Professor Bruno Gollnisch lange Zeit als dessen Nachfolger. Natürlich hat er es nicht verdaut, dass seit Kurzem die jüngste der Le-Pen-Töchter den Parteivorsitz wie ein Familienerbe beansprucht. Doch eines muss Gollnisch seiner Rivalin lassen: Die 42-jährige rhetorisch gewandte Juristin und Politikerin kommt in den Medien und beim breiteren Publikum ganz einfach besser an. Die Sender laden sie auch gern zu Talkshows und Debatten ein.
Mit ihrer oft bissig-zynischen Schlagfertigkeit belebt sie Diskussionsrunden, die sonst mangels echter Meinungsdifferenzen zum Gähnen verleiten könnten. Im bewährten Stil aller Populisten argumentiert sie dabei, häufig in grober Vereinfachung komplizierter Realitäten, gern aus der Perspektive der frustrierten "kleinen Leute" gegen "die da oben", die laut FN von links bis rechts der Mitte sowieso alle unter einer Decke stecken.
Gollnischs Anhänger beschweren sich, Le Pens Tochter verwässere die Parteiideologie mit ihrer "Lightversion" der FN-Politik, um sich so bei der bürgerlichen Rechten anzubiedern. Die Gegenseite kontert mit der Behauptung, Gollnisch habe umgekehrt versucht, diverse Dissidente, die Le Pen in den Rücken gefallen waren, in die Partei zurückzuholen, um seine Position zu stärken. Gollnisch verkörpert zweifellos mehr die alte Garde aus der Zeit der Parteigründung: die Nostalgiker der Algérie française, ultrakonservative Monarchisten und extremistische katholische Integristen, zu denen sich auch rechtsextreme Skinheads und andere Rechtsradikale gesellen.
Marine Le Pen bringt soziale Themen in das traditionelle nationalistische Programm. Sie versucht, unbestreitbar mit Erfolg, neue Sympathisanten und Wählerkreise unter den Zukurzgekommenen der Globalisierung und der Krise anzusprechen, denen sie versichert, dass angeblich andere zu Unrecht auf ihre Kosten schmarotzen.
Neue Hackordnung
In Nanterre saßen Marine Le Pen und ihr Gegner Bruno Gollnisch während der Ansprache des scheidenden Parteichefs auf der kleinen Tribüne einträchtig nebeneinander. Schon die Ankunft aber verriet die interne Hackordnung: Hinter dem Vater kam zuerst die Tochter, gefolgt vom Dritten, Gollnisch.
In seiner Rede ließ der bisherige Parteipräsident keinen Zweifel an seiner Präferenz für Marine aufkommen. Sie hätten dieselben politischen Ansichten, bestätigte er, "bis auf wenige Nuancen, aber auch im Front National darf es schließlich verschiedene Meinungen geben". Damit diese dann doch nicht allzu sehr divergieren oder gar eine Spaltung bewirken, bleibt er als "Ehrenpräsident" mit Stimmrecht in der Parteileitung.
Natürlich bedauert er rückblickend, dass es ihm nicht gelungen ist, mit dem FN in Frankreich die Regierungsmacht zu übernehmen. Doch dieser Misserfolg ist für ihn relativ, denn er sei nur "die erste Stufe einer Rakete, die nun eine zweite in Umlauf bringen wird, die dann das Ziel erreichen wird", meinte Le Pen mit wohlwollendem Blick auf seine Tochter. Sie betrachtet ihren Anspruch als legitim: "Ich kam in den Genuss einer permanenten Weiterbildung an der Seite eines Vaters, der zwischen Privatleben und Politik nie einen Unterschied gemacht hat."
Heute ist sie längst politisch volljährig. Nicht zufällig hat sie eine ehemalige proletarische Bastion der Linken in Nordfrankreich als Wahlheimat auserkoren. Der unaufhaltsame Niedergang der Industrie seit dem Ende der Kohlengruben hat dort einen Nährboden für rechtspopulistische Thesen geschaffen.
Dies erst recht, wenn sich wie in Marine Le Pens neuer Wahlhochburg Hénin-Beaumont die politische Linke mit einem Korruptionsskandal bei ihren traditionellen Wählern in verarmten Arbeiterschichten gründlich diskreditiert. Bis zu 40 Prozent erreichte die FN-Liste in diesem Städtchen bei den letzten Wahlen, bei denen es dem FN um ein Haar gelungen wäre, das Rathaus zu erobern. In Hénin-Beaumont fühlt sie sich aber auch so zu Hause. Wenn sie auf dem Markt Flugblätter verteilt, wird sie von Sympathisanten vertraulich mit dem Vornamen angesprochen.
Nachdem Marine Le Pen zuerst in den Fußstapfen ihres Vaters marschierte, geht sie nun ihren eigenen Weg. Ihre Vorbilder stammen weniger aus der Zeit des Faschismus der Vorkriegszeit, sie verfolgt vielmehr mit größtem Interesse, wie heute in Europa rechtspopulistische Bewegungen und Parteien mit ähnlichen antieuropäischen Positionen und vor allem mit dem Feindbild schlecht integrierter Muslime punkten.
Vor dem Kongress in Tours provozierte auch Marine Le Pen mit einem vehementen Angriff auf Muslime in Frankreich: Dass manche Gläubige an gewissen Tagen in einigen Städten (mangels Platz in Moscheen) auf der Straße beten, setzte sie mit der nazideutschen Besetzung Frankreichs während des Kriegs gleich. Längst nicht alle waren in Frankreich über diesen bewusst skandalösen Vergleich schockiert. 54 Prozent der befragten UMP-Anhänger sagten laut France-Soir, sie teilten Marine Le Pens Äußerungen über die Muslime, die mit ihren Gebeten in der Öffentlichkeit ein Ärgernis seien.
Sie weiß sehr wohl, dass im Unterschied zum Antisemitismus und Rassismus die Islamophobie praktisch kein Tabu mehr darstellt. Für solche Angriffe gegen die sichtbare Präsenz des Islams existieren zahlreiche Berührungspunkte mit Kreisen in der konservativen Regierungspartei UMP.
UMP im Dilemma
Diese steht vor einem strategischen und taktischen Dilemma: Soll die bürgerliche Rechte sich weiterhin klar von den Extremisten distanzieren oder aber die von diesen lancierten Themen, die auch Anklang bei konservativen Wählern finden, selbst aufgreifen?
Das hatte die Regierung 2009 mit einer landesweiten Debatte über die "nationale Identität" erfolglos versucht. Auch eine ständig verschärfte Ausländer- und Sicherheitspolitik vermochte nicht, die Anziehungskraft der extremen Rechten dauerhaft zu schwächen. Wird diese sogar als Partner unumgänglich, falls unter der neuen Führung der FN nicht mehr permanent Anstoß erregt wie unter Jean-Marie Le Pen, sondern halbwegs "salonfähig" wird?
Einer von Sarkozys Präsidentenberatern, der namentlich nicht genannt werden will, glaubt, dass der FN schon in wenigen Jahren Teil einer rechten Regierungskoalition sein werde, wenn sich diese Partei unter der Regie der neuen Chefin etwas weniger extremistisch gebe. Deren vermeintliche Mäßigung sei aber nur "Fassade" oder ein "Airbag", warnt das Magazin L'Express: "Was zählt, ist das Programm, nicht die Verpackung." Eine Entwicklung wie (mit Fini) in Italien werde es in Frankreich nicht geben.
Eine andere Konsequenz eines erneuten Erstarkens des FN, welche die derzeit regierende Partei von Präsident Sarkozy in Verlegenheit bringen könnte, prophezeit der Politologe Dominique Reynié. Mit voraussichtlich mehr als 15 Prozent der Stimmen werde Marine Le Pen als Präsidentschaftskandidatin 2012 zu einer ernsthaften Gefahr für den Amtsinhaber im ersten Wahlgang.
Man erinnert sich in Frankreich noch gut, wie ihr Vater im April 2002 für eine Sensation sorgte, als er den Sozialisten Lionel Jospin und mit ihm die mit allzu vielen Kandidaten antretende Linke aus der Stichwahl eliminierte. Laut Reynié ist es nicht auszuschließen, dass dieses Mal der UMP-Kandidat Opfer der Konkurrenz des FN wird.
Mit solchen schadenfreudigen Gedanken schickt Jean-Marie Le Pen jetzt seine "Rakete" Marine an die Abschussrampe. Sie soll vollenden, was er begonnen hat, weil er seine Thesen im Trend der Zeit sieht: "Es besteht die Möglichkeit, oder sogar die Wahrscheinlichkeit, dass die FN-Kandidatur [bei den Präsidentschaftswahlen 2012] ein außerordentliches Resultat erzielt, und dies nicht nur im ersten Durchgang, sondern vielleicht sogar im zweiten."
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