ESSAY: Marginalisierung der Politik
■ Polens Politik vor der Alternative: Gesellschaftlicher Pakt oder Diktatur?
Vor uns liegen die Parlamentswahlen. Entgegen der allgemeinen Auffassung sind es wenige, erschreckend wenige, die sich für Politik interessieren. Dafür kann man viele Gründe anführen, mich interessieren jedoch mehr die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, und wie man mit ihnen umgehen sollte. Neben den wenigen, die sich für demokratische Politik interessieren, gibt es eine schwer zu bestimmende Anzahl von Menschen, die sich für Politik insoweit interessieren, als sie Einfluß gewinnen möchten, zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen aber keinen „normalen“ demokratischen Weg sehen. Die polnische Demokratie hat noch keinen Weg des Ausgleichs zwischen den mannigfaltigen Gruppen und Lobbys gefunden, die in den „normalen“ Demokratien Druck auf den Staat ausüben. So ergibt sich, daß wenigstens drei — potentiell starke Interessengruppen der polnischen Gesellschaft — sich im normalen politischen Leben nicht ausdrücken können.
Drei Gefahren
1) Die Anti-Solidarność-Tendenz. Man sollte das Phänomen Tyminski nicht überschätzen. Aber es gibt ein Problem im Zusammenhang mit der moralisierenden Demokratie, wie sie von den sogenannten Post-Solidarność-Kräften angeboten wurde. Das meint die Idee, alle sollten die Ideale unterstützen, wie sie im Goldenen Zeitalter von Solidarność propagiert wurden. So als gäbe es eine prinzipielle, für alle verbindliche Interpretation des Allgemeinwohls.
Dahinter steckt die Unfähigkeit zu erkennen, daß sich viele Polen gar nicht mit Solidarność identifizieren. Und der Glaube, Moral lasse sich unmittelbar in Politik übersetzen. Nun gibt es in Polen viele, die durch den Umbruch nichts gewonnen haben. Ihnen liegt nichts an der politischen Freiheit, noch viel weniger an der Marktfreiheit. Eher haben sie verloren. Nicht, daß sie, wie Hunderttausende in der DDR, rufen: „Komm zurück, Kommune!“, aber es wird ein leichtes sein, sie für erhoffte individuelle Vorteile und gegen das Allgemeinwohl zu mobilisieren. Je nachdem könnten sie Juden schlagen, Geschäfte plündern oder ehemalige Führer der Solidarność ins Gefängnis bringen.
2) Die Anti-Marktwirtschafts- Tendenz. Als der Kommunismus zu Ende ging, da versicherten viele polnische Publizisten, jetzt müsse nur schnell privatisiert werden, und im Nu würde der Unsinn der marxistischen Ökonomie verschwinden. Inzwischen wissen wir, daß es so einfach nicht geht. Es ist keine eindeutig umreißbare Gruppe, die die freie Marktwirtschaft ablehnt. Sowohl Universitätsprofessoren wie Postbeamte, sowohl Künstler an Staatstheatern wie Arbeiter in Großbetrieben verloren ihren Job und werden mit absoluter Sicherheit für immer dem Staatshaushalt zur Last fallen — oder ruiniert werden. Noch ist die Ablehnung der Markwirtschaft schwach. Freuen sollte man sich darüber allerdings nicht allzusehr. Mit vielen anderen Beobachtern bin ich überrascht, wie wenig stark die egalitaristischen Forderungen bis jetzt sind. Und ich befürchte, Ursache dessen ist allein die Tatsache, daß es der Mehrheit in der Gesellschaft noch zum Konsum reicht. Aber das wird bald ein Ende haben.
Vor diesem Hintergrund ist ein Anwachsen der antimarktwirtschaftlichen Tendenz unvermeidlich. Unklar bleibt im Augenblick nur, wie das politisch ausgebeutet werden wird. Klar ist, daß die Gewerkschaft „Solidarität“ noch eine Zeitlang die negativen Folgen abdämpft, aber in nicht allzu ferner Zukunft wird sie aus dem Post-Solidarność-Lager ausscheiden. Oder sie begeht einen politischen Selbstmord.
3) Antiwestliche Tendenzen. Die antiwestliche Tradition in der polnischen Kultur ist schwach. Keineswegs so schwach ist sie dagegen in der polnischen Zivilisation. Dabei spielt die Kirche eine besondere Rolle. Jahrelang verbreiteten die Bischöfe im Kampf gegen den Kommunismus ein explizites Bewußtsein der moralischen Überlegenheit über die westlichen Demokratien. Das wurde durch die spektakulären Erfolge der Solidarność noch verstärkt. Und nun wird Polen auf einmal ein ganz „normales“ Land. Normal, und mit seinen realen und leider eben elenden Möglichkeiten. Wir können eigentlich nichts billiger produzieren als der Westen. Schon schreien die polnischen Bauern nach Schutzzöllen für Landwirtschaftsprodukte.
Gleichzeitig kommt westliches Kapital immer schneller nach Polen — und wir sollten uns das alle wünschen. Aber das wird zur Ausdifferenzierung der polnischen Gesellschaft führen. Dagegen werden die Konsummöglichkeiten aufgrund der billigen Westwaren durch den Druck der einheimischen Produzenten drastisch verringert werden. Es entsteht ein Konflikt, der das Aufkommen antiwestlicher Stimmungen wesentlich begünstigt. Der Westen, der billiger und besser produziert, macht uns fertig, aber die Verbarrikadierung unserer Grenzen macht uns auch fertig. Diese Situation sehen wir bereits in der ehemaligen DDR, wo die riesigen Hilfeleistungen der Westdeutschen nicht viel erreichen. Ließen wir Schutzzölle zu, dann müßten wir sie praktisch auf alles anwenden: von den Autos bis zu den Professoren (Ja, auch die sind teurer und dümmer). Natürlich fordert niemand die totale Autarkie, aber ich bin davon überzeugt, daß Polen im Laufe eines Jahres ein Land mit überflüssiger Produktion werden wird, eingeklemmt zwischen schrecklich billiger sowjetischer und immer billigerer westlicher Produktion.
Pluralismus und „besonderer Zustand“
Den Begriff „Ausnahmezustand“ möchte ich aus naheliegenden Gründen nicht verwenden. Aber man muß blind sein, um nicht zu erkennen, daß wir in einem „besonderen Zustand“ leben. Das Ensemble der politischen und wirtschaftlichen Strukturen beim Aufbau eines neuen Systems ist noch kaum entwickelt. Wenn man die Äußerungen fast aller Aktivisten der wichtigsten sogenannten politischen Parteien hört, dann gewinnt man den Eindruck, sie wüßten ganz genau, was zu tun sei, und es liege nur an — nicht näher bezeichneten — Kräften, die sie hinderten, diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Sie berufen sich auf die einzig wahre Methode — und beharren zugleich auf dem politischen Pluralismus, weil es sich so gehört. Der Begriff Pluralismus hat in Polen fast magische Bedeutung erlangt, er ist zu einem Wert an sich geworden.
Prüft man die unterschiedlichen Ansichten an dem Katalog der politischen Differenzen, dann wird sehr schnell sichtbar, daß diese Unterschiede — mit einer Ausnahme — de facto gegenstandslos sind. Beim Problem der Privatisierung, das der progressiven Einkommensteuer (POPIWEK) oder auch das des Umgangs mit der Nomenklatura sind sich im Kern alle Parteien einig. Auch in der Frage der sowjetischen Truppen vertreten alle den schnellstmöglichen Abzug. Aber ich kenne niemanden, der den Russen deswegen den Krieg erklären will. Einzig die Frage der Abtreibung ist heute im öffentlichen Leben ein echtes Problem.
Marginalisierung der Politik
Die Marginalisierung der Politik beruht darauf, daß die „normalen“ politischen Kräfte, d.h. die Parteien, um jeden Preis versuchen, einen künstlichen Pluralismus herzustellen, während sich bedeutende Tendenzen in der Gesellschaft, von denen ich einige erwähnt habe, nur außerhalb dieser Ordnung ausdrücken können. In einer solchen Situation kann die parlamentarische Demokratie jeden Augenblick zerstört werden. Theoretisch sollte man sich vor dem schwindenden Interesse an der Politik nicht fürchten. Solange das Wirtschaftssystem einigermaßen funktioniert, bleibt die Politik zweitrangig. In Polen jedoch kann man nicht sicher sein, daß die wirtschaftliche Situation und die politischen Veränderungen, auf die wir zu Recht stolz sein können, von stabilem und dauerhaftem Charakter sind. Alles ist unsicher, und jede kleine Krise kann unsere Errungenschaften im Nu zuichte machen.
Wenn die polnischen Parteien dem Staat und der Regierung nicht die Zeit zugestehen, Fehler zu korrigieren, wenn wir ständig entweder Beschleunigung oder Ruhe verlangen, aber es nicht schaffen, einen Pakt zur Stärkung und Entwicklung des Erreichten zustande zu bringen, dann — und das garantiere ich persönlich — verlieren wir alle. Auf dem Spielfeld werden Kräfte ganz anderer Art erscheinen, die Anti-Solidarność-, die Anti-Markt- und die antiwestliche Tendenz, während die Führer der heute aktiven wichtigen politischen Parteien sich entweder daheim oder in der Emigration befinden werden. Marginalisierung der Politik führt binnen kurzem zum Verschwinden zivilisierter, demokratischer Politik. In einer solchen Welt wird dann der Autoritarismus à la Lateinamerika noch eine ausgesprochen sanfte Lösung sein. Marcin Krol
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