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Margaret Atwood:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Ich bin gerade in Südfrankreich. Nur wenige Kilometer von hier gibt es einen Felsen, der mehrere tausend Jahre lang eine Festung war. Auf seiner Spitze findet man ein in den Stein geschnittenes Becken, wo die ligurischen Kelten Opfern den Kopf abschlugen.

Dieser Glaube ist sehr alt: Die Überzeugung, Gott sei ein wütender Vampir, der menschliches Blut fordere ... alt, eingefleischt und schwer loszuwerden, wie es die Geschichte dieser Gegend im Mittelalter zur Genüge beweist. Hier gab es viel Ketzerei, viel Blutvergießen. Die Katharer kämpften hier ihren letzten Kampf; etwas später wurden hier die WaldenserInnen in Massen gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt und hingeschlachtet; hier lebten zahlreiche Hugenotten bis zum Widerruf des Edikts von Nantes — als Frankreich für sie so gefährlich wurde, daß sie es als „die Wüste“ bezeichneten. Und jede Schlächterei, jede Folter wurde feierlich im Namen Gottes begangen — das wirft ein etwas gespenstisches Licht auf die niedlichen Weihnachtskrippen in den Geschäften und die dankbaren Votivtäfelchen in den hiesigen Kirchen. Aber wird eine Religion durch ihre Extremisten entwertet oder durch jene, die sie zynisch nutzen, um ihre eigene Macht zu festigen? Wenn ja, dann haben die meisten von ihnen — und die meisten von uns — gewaltige Probleme ...

Was das Vorspiel wäre. Neulich dachte ich an die Zeit zurück, als ich Ihr Buch zum ersten Mal las. Es war gerade herausgekommen, und ich las eifrig, bis ich zu der Passage kam, die seitdem für all den Aufruhr gesorgt hat. Damals schoß mir ein winziger Hauch des Zweifels durch den Kopf: „Könnte es sein“, dachte ich, „daß einige Moslems sich darüber ernstlich aufregen?“ Aber nein, dachte ich; diese Passage gehört zu einem Traum im Kopf einer Figur, die ein Taugenichts ist. Kein Leser käme auf die Idee, diese Passage für die wahre Meinung des Autors zu halten.

Nun, ich habe mich schon öfter getäuscht, aber selten so deutlich wie dieses Mal. Da ich aus einer seelenerforschenden protestantischen Familie komme, dachte ich — nach den Demonstrationen, nach der Fatwah, nach den Ereignissen, die Sie auf so unumkehrbare und bedauerliche Weise zu einer historischen Figur machten — über die Gründe meines Irrtums nach. Teilweise lagen sie zweifellos in jenem albernen Optimismus, der mich zu dem Glauben verführt, jeder Mensch lese Bücher sorgfältig und gründlich und mit einem Gefühl für Ironie und Feinheiten (obwohl Schriftsteller wissen, daß viele Kritiker nicht einmal die Handlung richtig wiedergeben können, geschweige denn die Kernfrage) — aber teilweise lagen sie mit Sicherheit auch in meiner Verwurzelung als Leserin in der Heterogenität der christlichen Tradition.

Das Christentum ist ein Haus mit vielen Wohnungen, und das hängt mit der Tatsache zusammen, daß sein heiliger Text, die Bibel, nicht an einem Ort und auf einmal veröffentlicht und noch nicht einmal in einer einzigen Sprache geschrieben wurde; es ist eine Sammlung von Texten. Ihre Form ergibt sich aus der Zusammenstellung ganz verschiedener Teile — Familienstammbäume, Poesie, Lieder, Drama, vielerart Erzählungen — und nicht aus der Einheit eines Willens, eines Stils, eines Impulses. Die Art und Weise, wie sie gelesen wurde, entwickelte sich über die Jahrhunderte und war ähnlich polyphonal: Damit das Buch einen Sinn ergab, mußte jedes heilige Element in der säkularen und dämonischen Welt Gegenstücke haben, zu jedem Typ gehörte sein Gegentyp. Für Christus gab es den Antichrist, für den Lebensbaum gab es den Baum des Todes, für den Garten gab es die Wüste, für die Jungfrau Maria die babylonische Hure. Antitypen oder dämonische Parodien konnten dieselbe äußere Form wie die Prototypen annehmen, aber ihr Gehalt — ihre spirituelle Polarität — war eine Umkehrung.

Als Kultur hat das Christentum dazu tendiert, diese Umkehrung zuzulassen; mit zulassen meine ich, daß sie sich äußern durfte, eine Stimme und eine Funktion erhielt. Tatsächlich war sie Teil des göttlichen Dramas: ohne den Teufel kein Sündenfall und keine Erlösung. In mittelalterlichen Kirchenprozessen war der Advocatus diaboli eine notwendige Figur, dämonische Wasserspeier mit Hörnern und Fledermausflügeln grinsen von Kathedralen, und auch in den Kirchen selbst sind Teufel und satirische Grotesken zu finden. Und der Kalender der Kirche verzeichnet eigenartige Feste, besonders den Fastnachtsdienstag, wenn die normale Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt wird, wenn sich der Spott über Würdenträger und Machthaber ergießt.

Daher — denn im Westen ist die Literaturkritik ein Kind der Bibelexegese — lese und verstehe ich Ihr Buch auf diese Weise. Die Figur des Propheten wird nicht herabgewürdigt, weil sie in Versuchung gerät, also als menschlich dargestellt wird — auch Christus kam in Versuchung; und die Frauen, die die Namen der Frauen des Propheten annahmen, waren für mich Antitypen. Las ich Ihr Buch falsch? Durchaus möglich — aber, wie ich hoffe, weniger falsch als jemand, der jedes Wort für die Proklamation einer buchstäblichen Wahrheit nimmt.

Dies waren einige Erklärungen für meine eigene frühere Kurzsichtigkeit — Erklärungen, die zunehmend an Bedeutung verloren, weil im Laufe der Zeit deutlich wurde, daß Ihr Buch nicht einfach einem kulturell bestimmten Mißverständnis zum Opfer gefallen, sondern in ein höchst nützliches Propagandawerkzeug verwandelt worden war — aus Gründen, die mit dem Buch als Buch herzlich wenig zu tun hatten. Literarische Feinheiten waren schlicht und einfach pulverisiert worden. Noch deutlicher wurde mir, warum ich in der Einheit von Glauben und Staat — jedes Glaubens, jedes Staates — potentiell die am stärksten unterdrückerische aller möglichen Kombinationen sehe. Wenn eine Meinungsverschiedenheit mit einer zeitlichen Macht als Streit mit Gott interpretiert wird, dann wird jede Frage zur Ketzerei und alle Dissidenten werden dämonisiert.

Der christliche Westen brauchte fast zweitausend Jahre, um mit seiner eigenen Vielfalt zu einem unsicheren Waffenstillstand zu kommen. Die Opfer auf den knochenübersäten Wegen zur religiösen Toleranz zählen nach Millionen, und die Scheiterhaufen glimmen noch. Ich würde gerne sagen, daß all dieser Tod, diese Vernichtung letzten Endes einen Sinn hatten. Ich würde gerne sagen, daß die Idee der Gewissens- und daher der Redefreiheit den Sieg davontrug. In gewisser Weise war es so, an manchen Orten; für Sie ist das allerdings ein schwacher Trost, da Sie noch nicht einmal einen Laib Brot kaufen können, ohne Ihr Leben zu riskieren.

Vielleicht wird uns etwas erst dann wertvoll, wenn wir wissen, daß ein hoher Preis dafür gezahlt wurde; und in diesem Falle scheinen wir den Preis vergessen zu haben. „Gewissensfreiheit“ klingt ein bißchen hochtrabend — bis man sich daran erinnert, wie viele starben, bis sie erreicht war. Und noch heute sterben: Warum stehen heute, wenn eine repressive Diktatur irgendwo die Macht übernimmt, die Schriftsteller in der ersten Reihe?

Vielleicht sollte es ein Grab des Unbekannten Schriftstellers geben, der im Krieg der Phantasie gefallen ist. Das waren eine ganze Menge. Ich hoffe, es werden nicht noch mehr.

Margaret Atwood

Aus dem Englischen von

Meino Büning

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