■ Marek Edelman zum Gedenken an den Warschauer Aufstand und über das deutsch-polnische Verhältnis: „Die Versöhnung hat doch schon längst stattgefunden“
Marek Edelman, letzter noch in Polen lebender Anführer der Aufständischen des Warschauer Gettos (1943), nahm in den Reihen der kommunistischen Volksarmee als Partisan am Warschauer Aufstand (1944) teil. Er lebt heute als Arzt in Lodz und ist Mitglied der linksliberalen Freiheitsunion.
Wer heute die Frage nach der polnisch-deutschen Versöhnung stellt, der hat sich um mindestens 30 Jahre verspätet. Dieser Prozeß wurde nämlich bereits durch den berühmten Briefwechsel der polnischen Bischöfe mit dem deutschen Episkopat eingeleitet, dessen Idee in dem Satz enthalten war: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ 1970 fuhr Willy Brandt nach Polen, unterschrieb den Vertrag über unsere Westgrenze und kniete vor dem Denkmal der Helden des Gettos nieder. Zu Zeiten Edward Giereks begannen die Deutschen, in unserem Land zu investieren. Die gemeinsame Grenze verband uns mehr, als daß sie uns trennte. Polen fuhren nach Deutschland zum Geldverdienen, zu Einkäufen oder einfach, um einen Ausflug zu machen.
Während der Solidarność-Regierungen haben sich diese Kontakte noch weiter verstärkt. Heute überqueren Hunderttausende die Grenze, kaufen, verkaufen, unterschreiben Handels- und Eheverträge. In Polen greift der Kult der deutschen Ordnung um sich und die Überzeugung, daß in eben diesem Land solide gearbeitet, gut verdient und bequem gelebt wird. Ablehnung gegenüber Deutschen existiert natürlich weiter, vor allem bei der älteren Generation. Sie erinnert sich noch an die Besatzungszeit und kann die Grausamkeiten des Krieges nicht vergeben. Sie trägt tief ins Herz eingegrabene Vorwürfe mit sich. Aber diese Gruppe wird immer kleiner.
Ich sehe keinerlei rationalen Grund, keinerlei Rechtfertigung für jene Stimmen, die dagegen protestieren, daß der Präsident des demokratischen Deutschland, Roman Herzog, während der Feiern zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstandes eine Rede halten wird. Im letzten Jahr ist zu den Feierlichkeiten zur 50. Wiederkehr des Gettoaufstands Bundestagspräsidentin Süssmuth angereist – und es gab keinerlei Proteste.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es keinen Grund gibt, nach dem Sinn der Versöhnung zu fragen, denn sie hat bereits stattgefunden. Die ganze historische Wahrheit wurde aufgedeckt und das heutige, demokratische Deutschland hat mit dem Dritten Reich nichts gemein. Präsident Herzog ist nicht für Hitler verantwortlich, wie auch seine Landsleute sich nicht für das verantwortlich fühlen sollten, was früher einmal die Faschisten getan haben. Das bedeutete die gleiche Absurdität, als würde man den ersten Solidarność-Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki für das verantwortlich machen, was seine Vorgänger Bierut oder Gomulka taten.
Heute darf man keine polnisch- deutschen Beziehungen errichten, indem man in die häufig sehr schwierige Vergangenheit beider Nationen zurückschaut. Das neue Europa muß anders werden. Auf dem Weg dorthin müssen sämtliche Anzeichen von Chauvinismus, Xenophobie und Intoleranz überwunden werden. Denkt man daran, muß man allerdings auch daran erinnern, daß jüdische Friedhöfe nicht nur im Land unseres westlichen Nachbarn zerstört werden und daß Toleranz etwas viel Schwierigeres ist als Aggression und Haß.
Die Deutschen sind zur Lokomotive geworden, die uns nach Europa zieht, zur Europäischen Union und in die Nato. Eben ihnen liegt von allen Staaten des alten Kontinents am meisten daran, daß Polen Mitglied der westlichen politisch-militärischen Strukturen wird. Die letzte Personalentscheidung des Verteidigungsministers Piotr Kolodziejczyk, der den pensionierten Bundeswehrgeneral von Ondarz zu seinem Berater ernannte, ist nur ein Beispiel der sehr lebendigen Zusammenarbeit und ein neuer Schritt auf dem Weg Polens in die Nato und die Europäische Union.
Der 50. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands sollte auch eine Gelegenheit zur polnisch-russischen Annäherung sein. Das ist nämlich die Chance zu einer Veränderung der menschlichen Mentalität und zur Überwindung gegenseitiger Ablehnung. Heute ist das besonders notwendig, weil die politischen Barrieren bereits abgetragen sind, die einer Versöhnung im Wege standen. Und weil heute bereits die weißen Flecken unserer gemeinsamen Geschichte mit der bitteren Wahrheit gefüllt wurden. Es ist sicher besser, sich am gleichen Tisch sitzend zu verständigen, als sich über eine Entfernung von 500 Kilometer mißtrauisch zu beäugen.
Unsere Integration in Europa und unsere Beziehungen zu den Deutschen sind in bedeutendem Maße davon abhängig, was in Rußland geschieht. Wenn in diesem Land die chauvinistischen und imperialistischen Kräfte die Oberhand gewinnen, wird das unseren Prozeß der „Rückkehr nach Europa“ gewaltig bremsen. Ich bin deshalb auch nicht mit der jüngst geäußerten Ansicht des deutschen Verteidigungsministers einverstanden, daß die Entscheidung über die Aufnahme Polens in die Nato nur unter den Nato-Mitgliedern fällt. Rußland ist eine Atommacht, mit der alle rechnen müssen. Aber ein demokratisches Moskau ist für uns eine große, einmalige Chance. Dann wird eine Wiederholung dessen, was am 14. Juli in Frankreich stattfand, wirklich: daß die polnische Armee unter dem Brandenburger Tor und Abteilungen der Bundeswehr auf dem Pilsudski-Platz in Warschau defilieren.
Man darf die Geschichte nicht vergessen, sie muß Warnung für die folgenden Generationen bleiben. Aber für die Bedürfnisse des normalen Lebens muß man mit der Last des gegenseitigen Leids und der einander zugefügten Wunden fertig werden und dazu jede sich bietende Gelegenheit nutzen. Es war eine falsche Entscheidung, daß die Alliierten die Deutschen nicht nach Calais zu den Feierlichkeiten der Landung in der Normandie eingeladen haben. Ich bedaure, daß Polen und Deutsche nicht gemeinsam den Jahrestag der Schlacht um die Westerplatte begangen und nicht gemeinsam im Mai dieses Jahres am Kloster von Monte Cassino vorbeidefilierten. Kommt es nicht zur Versöhnung, besteht immer die Gefahr, daß alte Abneigungen, Antagonismen und Chauvinismen wiederaufleben.
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