: Mammut-Prozeß wegen Wohnungsbeschiß
■ Über 2000 Zeugen treten in einem Verfahren gegen die Betreiber eines obskuren Wohnungsvermittlungsvereins auf / Haftbefehl erlassen
Vor der 4. Strafkammer des Landgerichts begann gestern der wohl größte Prozeß in der Berliner Kriminalgeschichte: bis zum September 1990 sollen laut Terminplan 2.237 Zeugen gehört werden. Angeklagt sind der 34jährige Optiker Reinhold K. und seine 25jährige Ehefrau, die medizinisch-technischen Angestellten Claudia K., die als Betreiber von Wohnungsvermittlungsvereinen üble Geschäfte mit der Wohnungsnot gemacht haben sollen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, 2.237 Wohnungssuchende betrogen zu haben, indem sie diesen über Vermittlungsvereine entweder nicht vorhandene oder nicht zur Verfügung stehende Wohnung anboten und dafür pro Nase Mitgliedsbeträge zwischen 80 und 100 Mark - insgesamt 189.000 Mark - kassierten. Der Berliner Mietergemeinschaft zufolge ist der Prozeß jedoch nur die Spitze vom Eisberg: Nach Einschätzung der Gemeinschaft treiben in Berlin nämlich rund 50 oftmals miteinander verbundene Vereine in teilweise noch viel größerem Stil ihr Unwesen mit der Wohungsnot, ohne deswegen behelligt zu werden.
Im Fall der beiden jetzt Angeklagten haben die Strafverfolgungsbehörden fast vier Jahre ermittelt. Zur Last gelegt wird ihnen nun, in der Zeit von Januar '86 bis September '87 die Vereine und gewerblichen Unternehmen namens „Bürgerladen“, „Bürgerimmoblien“, „Bürgerladen-Listen -Verlag“ und den „Verein Plauderstübchen“ in der Kärtnerstraße in Schöneberg und in der Urbanstraße in Kreuzberg betrieben zu haben. Die Beschlagnahmung der Mitgliederkartei hatte nach Angaben von Staatsanwalt Schwarz ergeben, daß dort 3.300 Wohnungssuchende eingeschrieben waren. In der Anklage ist allerdings nur von 2.237 betrogenen Interessenten die Rede, weil die übrigen auf den Fragebogen der Staatsanwaltschaft nicht reagiert hatten. Schwarz zufolge wurden den Wohnungssuchenden, nachdem sie ihren Mitgliedsbeitrag entrichtet hatten, von den Angeklagten Listen mit insgesamt 1.112 Wohnungsobjekten zur Verfügung gestellt worden. Bei den 1.112 Wohnungen habe es sich jedoch nur um 526 verschiedene Wohnungen gehandelt. 224 davon hätten nicht einmal zur Vermietung freigestanden und acht überhaupt nicht existiert. 192 tatsächlich zur Vermietung stehende Wohnungen seien den Vereinsbetreibern nicht von den Vermietern zur Verfügung gestellt worden, bleiben also 194 als wirkliches Angebot.
Die Interessenten für die Wohnungen waren Schwarz zufolge hautsächliche mindermittelte Leute, die preisgünstige Wohnungen suchten, ohne dafür Maklergebühren zahlen zu müssen. Wie die Angeklagten an die Informationen für ihre Listen gekommen waren, konnte nach Angaben des Staatsanwalts nicht defintiv ermittelt werden. Die Vermutung, daß ein Teil der Wohnungsangebote aus der Zeitung abgeschrieben worden sei, könne nicht bewiesen werden. Ein anderer Teil sei den Angeklagten möglicherweise aufgrund ihrer eigenen Wohnungsgesuch-Annoncen angezeigt worden.
Der erste Prozeßtag ging gestern zu Ende, noch bevor die Anklageschrift verlesen war. Verteidigerin Elze und Verteidiger Montag hatten für den Hauptangeklagten Reinhold K. die Aussetzung des Verfahrens beantragt, weil sie noch Einsicht in die kurz vor Prozeßbeginn plötzlich aufgetauchten 35 Aktenbände nehmen müßten. Aus den Akten werde sich ergeben, daß „40 bis 45 Prozent“ der von dem Angeklagten angebotenen Wohnungen noch „nicht erfaßt“ seien, und er somit keines Betruges schuldig sei.
Nachdem das Gericht unter Vorsitz von Richter Chomse von der Beratung zurückkehrt war und die Anträge in Bausch und Bogen abgelehnt hatte, kam für Reinhold K. die böse Überraschung. Er erhielt einen Haftbefehl, weil wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe Fluchtgefahr bestünde. Der Prozeß wird Mittwoch fortgesetzt.
plu
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