■ Magische Orte: Im Museumsdorf
Die Oranienstraße, einst „linksalternativer Ku'damm der Frontstadt“ (Alternativ Reisen), ist heute ein Anachronismus – Blinddarm einer Zeit, die wie kaum eine andere den Namen „Vergangenheit“ verdient. Ein unschönes Schicksal. Wer wie ich dort arbeitet und wohnt, neigt inzwischen zur Apologie, erntet aber nur Mitleid. Kluge Menschen wie Kapielski oder taz-Fricke sitzen in Wilmersdorf und in Wedding und lachen sich eins: Ik bün al door.
Unterdessen hat man die Oranienstraße zur Beschleunigungsspur haussmannisiert. Stefanie vom Dante, dem ersten Buchladen am Ort, hat sich die Reiseführer der letzten zehn Jahre angeguckt. Resultat: Die Oranienstraße verschwindet mit der gleichen Eile aus den Registern der Szene-, Polit- und Alternativbaedecker wie die Busse aus Lotterbeck und Rottweil aus der Oranienstraße. Geschichtswerkstätten aus der Provinz preisen uns als Museumsdorf. Schon können wir froh sein, wenn uns Spätergeborene („89er“) wie FR-Bötticher zumindest noch ein bißchen Häme gönnen: ewige Hausbesetzer, die sich ein e für ein i vormachen, sich die Wampe vollschlagen und alte Ideale in Rotwein ertränken.
Ist ja auch nicht falsch. Keine zwei Stunden ist es her, daß mein Freund, der dicke Olaf, abdrehte, „muß noch schnell Erdbeern bei Kraut & Rüben kaufen“ (den Krautis). Nachher schlürfte ich meinen zweiten Milchkaffee um die Ecke bei Ismail, und Stefan schleppte drei Honigmelonen vorbei: Sonderangebot am Kotti. Natürlich wäre ich auch gern nach Prenzlauer Berg gezogen. Das Warenangebot in der Oranienstraße aber ist ziemlich gut. Bei Mario Adorf, dem türkischen Friseur, kriegt jeder Kurzfasson Scheitel links für 12 Mark.
Sieloff, zwei Häuser weiter, ist ein Familienbetrieb, alles Zeugen Jehovas. Die halten jedem die Tür auf. Egal, was man kauft. Vor ein paar Jahren hatten wir uns dort so einen Greenpeace-Foron-Kühlschrank gekauft. Der erwies sich dann doch als FCKW-betrieben; Mark meinte, das sei wegen der Apokalypse, die dann schneller kommt. Nach einer angemessenen Boykottzeit gingen Katharina und ich trotzdem wieder hin, weil die auch zu Türken immer sehr nett sind. Außerdem hat Olaf mal einen tadellosen Farbfernseher gekriegt, als Geschenk. Das mit dem Boykott ist eine Sache für sich, weil es irgendwann jeden Laden in der Oranienstraße mal trifft. Das spricht sich schnell herum – „Die Leute von Suff haben Nico voll angemacht, weil er Flaschen mit reingedrücktem Korken zurückgebracht hat“. Ein paar Tage lang ließ der Umsatz zu wünschen übrig.
Ich bin die Kleinfamilie und wohne in einem S.T.E.R.N.-modernisierten Hinterhof mit Grünfläche und Kindergarten. Aus dem Fenster zur Oranienstraße guckt Ergül raus wie aus einem Bilderrahmen. Seit zwei Monaten trägt sie ein Kopftuch, weil sie die Männer im Marmara gegenüber ständig „Schlampe“ genannt haben. Jetzt hat sie Ruhe, aber Kopftücher sind eine Entscheidung für immer. Im Urlaub in Istanbul wird sie sich schwarze und weiße nach der neuen Mode kaufen. Die Qualität ist auch besser.
S.T.E.R.N. ist längst nach Mitte abgewandert, den Verein Kiez-Grün haben sie plattgemacht, aber wir sind noch da. Wir würden uns auch gern um den Garten kümmern, aber leider ist das Tor abgeschlossen. Früher ging's hoch her, wenn der Hof den Revolutionären vom 1. Mai zur Sammlung diente, heute verirrt sich manchmal ein trauriger Junkie in unseren Hausflur. Der wird rausgeschmissen wegen der Feuergefahr. Mein PC steht unter subventionierten Dachfenstern, aber wenn ich lesen will, gehe ich auf die Straße. Ich bin zu hektisch, um zu Hause zu lesen.
In der Oranienstraße sitze ich nachmittags gern im Bierhimmel. Es gibt den besten Kuchen, aber so oft bin ich trotzdem nicht da. Ich bin ja kein Dandy wie Wolfgang Müller. Manchmal komme ich spät nach Hause. Dann gehe ich vorher noch kurz ins Inci. Ich lese sehr gerne auf den Barhockern, die in den Pizzerias um die Stehtische herumstehen. Das Verschwinden von Damen erlebt man da mit ungetrübtem Erstaunen. Der Blick ins Buch macht ja blind. Wenn ich dann hochgucke, bin ich ganz verwirrt, daß statt der Frau da jetzt Mann, Frau und Hund sind. Die Schnittechnik ist eben doch älter als der Film. Im Gegensatz zur Piccola Romantica hat das Inci keine Dauermusikcassette. Manchmal kommt jemand vorbei. Wir wenden über den Tisch ein paar Gemeinplätze. Oder es sind nur Touristen da. Dann lese ich wieder. Fritz v. Klinggräff
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