: Männersachen
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Im Radio verkündet nun der US-Zivilverwalter Paul Bremer, dass Saddam vor ein Gericht gestellt werden soll. „So ein Quatsch“, erbost sich ein Taxifahrer (in Bagdad), „Saddam hat so viele Menschen umgebracht, den soll man einfach abknallen. “ Der Tagesspiegel, 15. 12. 2003
Eine Umfrage unter den männlichen Menschen meines Umkreises ergab, dass sie unwillkürlich Mitleid empfanden mit dem alten Mann, während der amerikanische Arzt mit den Gummihandschuhen und dem Kahlkopf ihm die Mundhöhle ausleuchtet. Der alte Mann griff sich an die behaarten Wangen: Wollte er anzeigen, dass er an Zahnschmerzen leide?
Eine TV-Moderatorin erklärte die Szene flugs zu einem würdelosen Schauspiel – typisch für die täppischen, wenn nicht brutalen Amerikaner –, und deshalb muss ich verraten, dass die befragten männlichen Menschen meines Umkreises allesamt den Krieg gegen Saddam befürwortet hatten (unter Hintanstellung ihres soliden Misstrauens gegen „il Presidentino“). Was sich in ihrem spontanen Mitleid äußerte, war also keine klammheimliche Sympathie für den Tyrannen, eine Sympathie, die ich während des Krieges im Irak und jetzt während der anhaltenden Attacken aus vielen Pazifisten herauszuhören meinte. Das Mitleid stellt ein bemerkenswertes sozio-moralisches Faktum dar; insbesondere, wenn es in Männern aufkommt. Es entstand auch, als Milošević abgeführt wurde; und angesichts einer so widerwärtigen Gestalt wie Ceaușescu, als er medizinisch begutachtet und erschossen wurde.
Als männliche Reaktion möchte man das Mitleid mit entmachteten Schurken für alles andere als natürlich halten. Der irakische Taxifahrer, der umstandslos für Abmurksen plädiert, spricht deutlicher aus dem Inneren einer archaischen Männergesellschaft heraus. Auch Saddam war ja ein richtiger Killer; er brachte seine Feinde mit eigener Hand zur Strecke, wenn nötig. Überhaupt zählt in solchen Männergesellschaften Brutalität zu den Ressourcen: Den König Feisal, den die Offiziere 1958 stürzten – ein weiches Bürschchen, das in den Fünfzigern die Aufmerksamkeit unserer Mütter respektive Großmütter ebenso umgloste wie den König Hussein von Jordanien –, den König Feisal verarbeiteten die Massen nach dem Sturz auf den Straßen von Bagdad zu Hackfleisch, ein richtiges Volksfest. Der General Kassem, sein Nachfolger, war immerhin noch zu erkennen, als man nach dem nächsten Putsch seine Leiche im TV präsentierte. Saddam selbst versprach ja Selbstmord im Fall von Gefangennahme – dass er sich jetzt so demütig zeigte, trägt gewiss zu seiner weiteren Entehrung bei. In der BBC spekulierte man darüber, wie es ihn erleichtert haben müsse, dass ihn die Amerikaner kriegten. Statt seiner Landsleute, die …
Denkt man darüber nach, wieso körperliche Brutalität als Machtressource in manchen Gesellschaften verschwindet, kommt man rasch auf Norbert Elias’ „Prozess der Zivilisation“. In den Gesellschaften, die auf strikter Trennung der Geschlechter bestehen – der Mann in die Öffentlichkeit, die Frau ins Haus –, beruht die soziale Ordnung auf dem männlichen Kampfeswillen. Es gibt weder Polizisten noch Staatsanwälte noch Richter, es gibt bloß Krieger, und weil das alle wissen, herrscht relativer sozialer Frieden.
Die europäische Geschichte – erzählt Elias – arbeitete den Krieger in den Höfling und dann den Bürger um, und so läuft es in allen Gesellschaften, die sich zivilisieren. Der körperliche Kampfeswille versiegt als Machtressource. Schon den kleinen Jungs wird er abtrainiert; das besorgen einerseits die Lehrpersonen, wenn sie Prügeleien auf dem Schulhof unterbinden. Anderseits kann man den Zivilisationsprozess unter den kleinen Jungs selber wirken sehen: Ich erinnere mich genau an die Rituale, die beim Prügeln einzuhalten waren. Insbesondere der Friedensschluss: „Gibst du auf?“, fragte der Sieger, wenn er über dem Verlierer kniete, und dieser hatte „ja“ zu antworten, damit der Sieger ihn freigab und aufstand (und sicher sein konnte, dass der Verlierer ihn nicht gleich wieder angriff).
Die Nostalgie dreht die Dinge gern um und erklärt beispielsweise das handgemachte Töten für viel, viel menschlicher als die Waffentechnik. Dunkel erinnere ich mich, wie der Bruder (?) von Wolfgang Grams, den sie in Bad Kleinen als RAF-Terroristen erschossen, das Erwürgen für humaner erklärte als das Erschießen (was im Übrigen das Opfer mit aller Wahrscheinlichkeit anders sieht). Überhaupt neigt die Nostalgie dazu, die Stammesgesellschaften zu verklären – „wollen Sie wirklich behaupten, die USA mit ihren Streubomben seien zivilisierter als der Irak?!“
Lehrreich ist aber die Frage, ob Kampfeswille und körperliche Brutalität in den archaischen Gesellschaften nicht auch enthemmt werden müssen; ob Männer wie Saddam nicht auch deshalb an die Macht kommen und dort bleiben, weil sie zu Grausamkeiten fähig sind, die anderen männlichen Menschen in diesen Gesellschaften unmöglich geworden sind. Grausamkeit wäre eine Spezialbegabung. Der politische Prozess in solchen Gesellschaften rekrutiert die Männer als Führer, welche über diese Spezialbegabung verfügen, von Hand zu quälen und zu töten vermögen. Die anderen können das meistens nicht.
Der Film „Unforgiven“, mit dem Clint Eastwood auch in unseren Kreisen zum Star wurde, handelt davon, wie außerordentlich schwierig die Enthemmung ist. Ein doofer junger Mann, der auch noch kurzsichtig ist, meint sein Geld am leichtesten als Berufskiller verdienen zu können. Als er zum ersten Mal seinen Job erledigt hat, gibt er ihn vor Entsetzen gleich wieder auf. Clint Eastwood selbst, in der Jugend ein Killer, kann den Job nur abschließend erledigen, weil er ein Rachemotiv hat. Gene Hackman, dessen Brutalität ihn zum Sheriff qualifizierte, quälte Morgan Freeman, Eastwoods alten Kumpel, zu Tode, und das setzt die Tötungsabsicht und die Intelligenz, sie auszuführen, frei. Keine Mitleidsreaktion bewahrt Gene Hackman vor dem Erschossenwerden; doch nimmt Clint Eastwood den alten Beruf nicht wieder auf, die Enthemmung funktionierte nur momentan. Er verschwindet auf Nimmerwiedersehen, was den Kinogeher die Geschichte als eine aus alter Zeit, als Rittersage goutieren lässt.
In den Stammesgesellschaften geht es hier, wie gesagt, um reine Männersachen. Aber in der unseren ist diese Trennung von Innen und Außen, von Frauen und Männern aufgehoben – kommen jetzt weibliche Rittersagen auf uns zu? Das Kino sagt ja. In Luc Bessons „Nikita“ bedient die bildschöne Anne Parillaud im kleinen Schwarzen tadellos ihre Wumme. In Jonathan Demmes „Schweigen der Lämmer“ erlernt Jodie Foster das Ritterhandwerk, und man kann das Schema der Sage gut erkennen in seiner notwendigen Modifikation. Eigentlich steht dem weiblichen Menschen die Rolle der Jungfrau zu, die der Drache raubt und der Ritter befreit. Jodie Foster aber ist der Ritter, und der Drache ist Anthony Hopkins, der Menschenfresser in seiner Höhle – der in dieser Geschichte aber die Ritterin leitet und unterstützt. Nächstes Jahr erfahren wir, wie Quentin Tarantino „Kill Bill“ zu Ende erzählt, unzweifelhaft eine Rittersage, mit Uma Thurman in der Hauptrolle. Im Irak arbeitet dann alles an der Vorbereitung des Gerichtsprozesses gegen Saddam.
Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.