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MULTIPOLARE WELT"Nichts aufzwingen, auch keine noch so fortschrittlichen Dinge"

■ Interview mit dem Gorbatschow-Berater ALEXANDER JAKOWLEW

Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?

Alexander Jakowlew: Ja und nein. Es ist richtig, daß durch die jahrelange Ost-West-Konfrontation eine eigene Struktur von Bündnissen, Beziehungen, Netzen und Einflußmöglichkeiten entstanden ist. Es ist auch richtig, daß wir heute, in dem Maße wie die Konfrontation abgebaut wird, eine Auflösung, zumindest eine Abschwächung der durch sie hervorgerufenen Erscheinungen miterleben. Ich bin nicht sicher, ob man das bedauern sollte.

Welche Mittel wurden bei dieser Konfrontation eingesetzt? Aufrüstung, Militärbündnisse Waffenlieferungen, die Unterstützung einer der Parteien bei jedem Konflikt und so weiter... Diese „Technologie der Beeinflussung“ ist allgemein bekannt.

Für Problemlösungen in einer Situation der Nicht-Konfrontation ist diese Technologie jedoch ungeeignet. Die gegenwärtige Übergangssituation wird wahrgenommen als Verringerung der Einflußmöglichkeiten der Sowjetunion und der USA auf globale Probleme, und in gewisser Weise verringern sich diese Möglichkeiten tatsächlich. Aber erstens ist es doch die Frage, ob die Welt es immer noch nötig hat, von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten beeinflußt zu werden! Und zweitens meine ich, daß dort, wo dieser Einfluß im Interesse des Friedens, der internationalen Kooperation und der Entwicklung notwendig und nützlich ist, neue Mittel und Wege gefunden werden müssen, Einfluß zu nehmen. Und drittens bin ich davon überzeugt, daß solche Möglichkeiten geschaffen werden können, und daß wir schon auf dem richtigen Wege sind.

Frieden, Sicherheit, Stabilität, Geltung des internationalen Rechts und Möglichkeiten zur Entwicklung brauchen alle Länder. Ich glaube, daß die UdSSR und die Vereinigten Staaten bei all dem eine wichtige Rolle spielen können. Aber der Zivilisationsprozeß der künftigen Welt ist nicht allein ein sowjetisch-amerikanisches Problem, es ist das Problem aller Staaten.

Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?

Was für eine Rolle, und was bedeutet „die Rolle übernehmen“? Wenn es um die Rolle der Konfrontation, des Kalten Krieges, der Aufrüstung geht – Gott verschone uns damit! Ich persönlich würde es nicht bedauern, eine solche Rolle loszuwerden. Und außerdem ist das ganze Reden von „Rollen übernehmen“ und „an die Stelle treten“ zwar besser als die Sprache der Schlachtfelder, aber trotzdem unnötig aggressiv. Ich bleibe bei der Vorstellung, daß alle Völker der Welt dazu beitragen werden, das Bild der Welt von morgen zu schaffen. Das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, daß die Welt stabil, demokratisch und ganz einfach normal ist. Da sollte es nicht um Haupt- und Nebenrollen gehen.

Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?

Wir erleben gegenwärtig eine zweifache Entwicklung: einerseits die Entwicklung und Vertiefung des nationalen Denkens, die hin und wieder zu heftigen nationalistischen Ausbrüchen führen kann; und andererseits eine Zunahme der weltweiten Interdependenz, die uns zu einer immer umfangreicheren Kooperation zwingt. Ich sehe nicht, was innerhalb der nächsten zehn Jahre das Gleichgewicht plötzlich zugunsten der einen oder anderen Tendenz verschieben oder sie ersetzen könnte. Wie könnte man das konkrete Gleichgewicht zwischen Nationalismus und Internationalismus definieren? Ich meine, wir sollten uns auf die unterschiedlichsten Kombinationen gefaßt machen. Ich würde das nationale Denken nicht verdammen wollen; beispielsweise haben sich alle Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft als Nationalstaaten konstituiert, oft auch sehr gewaltsam. Das Nationale ist eine natürliche und unvermeidbare Etappe in dem Prozeß der Globalisierung.

Um die Explosion aggressiver Nationalismen zu verhindern, muß man auf zusätzlichen wirtschaftlichen und militärischen Druck verzichten, sich nicht in nutzlose Konflikte und Konfrontationen verwickeln, nicht auf Sanktionen, Strafe und Rache zurückgreifen; nichts mehr aufzwingen, auch keine noch so fortschrittlichen Dinge.

Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?

Es gefällt mir nicht, wenn man die Entwicklung der Welt aus einer fatalistischen und mechanistischen Perspektive betrachtet. Vor allem hängt vieles von uns selber ab, von unserem Verhalten, von unserer Reaktion auf gegenwärtige und künftige Probleme. Wir müssen versuchen, im Umgang mit globalen Problemen zu einer neuen Psychologie zu finden. Die Probleme der Armut, der Unterernährung und der Krankheiten beruhen nicht auf der Geographie, ebensowenig wie die Probleme der Ökologie oder der Entwicklung.

Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?

Ich sehe sie nicht auf einer politischen Weltkarte, sondern auf einer Karte der globalen, regionalen, nationalen, sozialen und ökonomischen Probleme. Gewalt tritt im allgemeinen dort in Erscheinung, wo man sich weigert, Probleme zu erkennen, wo man nicht über die Möglichkeit oder die notwendige Einsicht verfügt, sie zu lösen.

Das Hauptproblem liegt nach meiner Meinung in der Tatsache, daß das gesamte moderne internationale System mit seinen Foren und Institutionen, also alles, was man unter „internationaler Politik“ versteht, geschaffen worden ist, um die traditionellen zwischenstaatlichen Beziehungen zu regeln, in deren Mittelpunkt die Fragen von Krieg und Frieden standen.

Von Beziehungen dieser Art haben wir noch nicht Abschied genommen und werden es offenbar so bald auch nicht tun. Aber wir befinden uns bereits in einer qualitativ neuen Welt, bei der das Problem der Entwicklung, des sozioökonomischen Fortschritts, im Vordergrund steht. Auch das Problem des globalen und regionalen ökologischen Gleichgewichts wird immer wichtiger. Ob wir in der Lage sein werden, diese Aufgaben rechtzeitig in Angriff zu nehmen, ist die Frage, die mich für die Zukunft am meisten beunruhigt.

Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?

Wenn in der Welt von morgen die Konfrontation im Vordergrund steht – was ich nicht glaube – dann wird die militärische Macht der beherrschende Faktor sein. Wenn eine gnadenlose Konkurrenz im Vordergrund steht, wird die wirtschaftliche Macht der beherrschende Faktor sein und so weiter. Wenn es aber darum geht, für die Menschen in aller Welt so normale Lebensbedingungen wie möglich zu schaffen, dann wird eine besonnene und vernünftige Verbindung aller Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Staates erforderlich sein.

Welcher Menschentypus ist am anziehendsten? Reich? Talentiert? Stark? Ich nehme an, manche mögen lieber einen Bodybuilder mit starken Muskeln, während für andere der Inhalt der Brieftasche wichtiger ist als die Persönlichkeit ihres Besitzers. Aber eine Gesellschaft wirkt anziehend, wenn sie sich nicht in Extreme verliert, ebenso wie ein Mensch anziehender wirkt, wenn er trotz seiner Stärken nicht borniert ist. Ich bin also für ein vernünftiges Optimum: für die Sicherheit eine ausreichende Verteidigungsfähigkeit, wirtschaftliche Zahlungsfähigkeit und Einflußmöglichkeiten auf kulturellem Gebiet.

Der polnische Schriftsteller Krzysztof Pomian faßt mehrere Jahrhunderte europäischer Geschichte in der Feststellung zusammen, daß die Nationen schließlich immer über Europa gesiegt haben. Gilt dies auch für das kommende Jahrzehnt?

Ich glaube, daß das beginnende Jahrzehnt diese Voraussage Lügen strafen wird. Die politische Idee der europäischen Einheit gibt es schon seit 150 Jahren, und den philosophischen Begriff noch viel länger. Aber hinter diesem Begriff stand viele Jahre lang weder ein europäisches Bewußtsein noch eine materielle Notwendigkeit. Jetzt aber sind die Bedingungen völlig anders, und ich meine, daß diese Veränderungen sich im kommenden Jahrzehnt vertiefen werden.

Vor allem will Europa keinen Krieg mehr, und wir alle begreifen das. Dies ist ein Imperativ für das gesamte Europa, es ist ein Interesse des gesamten Europas, das mit den nationalen Interessen übereinstimmt. Das ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache, die durch die Dynamik der europäischen Entwicklung und die jetzt beginnende neue Phase bewiesen wird.

Dazu kommen die Imperative der Wirtschaft, der Ökologie, des Rechtssystems und der Kommunikationsmittel. Es gibt weiterhin nationale Interessen, aber die Möglichkeit, sie zu befriedigen, hängt immer stärker von der Lage in Europa ab: Es geht also um ein Interesse des Kontinents, das zu einem nationalen Interesse wird. Dennoch glaube ich nicht, daß Europa in zehn Jahren ein einheitlicher Staat sein wird. Der Vertrag von Rom ist dreißig Jahre alt, und doch ist die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft noch lange kein einheitlicher Staat. Dafür ist die Fähigkeit nötig, die Interessen zu vereinigen, sie zu versöhnen und auszugleichen, statt sie einander entgegenzusetzen.

Welche besondere Rolle sehen Sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?

Auf jeden Fall keine messianische Rolle. Ich möchte hoffen, daß im Jahr 2000 die Idee, Anführer zu werden – vor allem die Vorstellung, es um jeden Preis und als Selbstzweck zu werden – mit Ironie, also mit einer gewissen Dosis Spott betrachtet wird.

Ich persönlich würde es gern sehen, wenn mein Land mit seiner Perestroika Erfolg hätte, wenn es eine wirklich demokratische Gesellschaft werden würde und bestimmte Werte – unter anderem wirtschaftliche Freiheit – endgültig übernehmen würde. Ich würde mir wünschen, daß mein Land die jetzige Übergangsperiode, eine sehr schwierige und unruhige Periode, überwinden kann und neue Formen von wirtschaftlicher Einheit und politischer Föderation entwickelt. Wenn die Hoffnungen und Erwartungen der Perestroika sich verwirklichen, wird die Sowjetunion sich stärker in die Weltwirtschaft und –kultur integrieren.

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