MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING: Lies mich
Virginie Despentes: „Wölfe fangen“. Aus dem Französischen von Kerstin Krolak und Jochen Schwarzer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000. 223 Seiten, 24 DM
Virginie Despentes hat vor vier Jahren in Frankreich einen Roman mit dem Titel „Baise-moi“ veröffentlicht. „Baise-moi“ heißt so viel wie „Fick mich“, und das Buch ist obszön und gewalttätig. Die Autorin musste ihren Roman allerdings erst zusammen mit der Regisseurin Coralie Trinh Thi verfilmen, um in ihrem Heimatland und auch in Deutschland eine kleine Diskussion über Pornografie und Gewalt auszulösen.
Der deutsche Verleih wird den Film als „Baise-moi“ in die Kinos bringen. Die Übersetzung der Romanvorlage, die ebenfalls gerade erschienen ist, trägt dagegen den Titel „Wölfe fangen“. Das ist nicht verkaufsfördernd, dafür aber dezent und poetisch. Zumindest bis man an dem Absatz angelangt ist, dem die zwei Wörter entlehnt sind. „Man muss besoffen sein, von jetzt an total viel trinken und Wölfe fangen“, sagt Manu, die wegen einiger Morde zusammen mit Nadine auf der Flucht vor der Polizei ist: „Je mehr du fickst, desto weniger denkst du nach und desto besser schläfst du. Was hältst du eigentlich davon, wenn wir heute Abend ’nen Wolf mit aufs Zimmer nehmen?“
Während der Wolf und insbesondere der einsame Wolf sonst für den einzelgängerischen, seiner Umwelt überlegenen Mann steht, sind die Männer, die sich Manu und Nadine mit auf ihre Hotelzimmer nehmen, Freiwild. Zu Recht, sollte man meinen, denn der Roman beginnt mit einer Vergewaltigung. Die Blutspur, die die beiden Frauen durch Frankreich ziehen, nimmt ähnlich wie in „Thelma und Louise“ ihren Anfang in den Niederungen struktureller Gewalt.
Von diesem moralischen Unterbau löst sich die Geschichte allerdings recht bald. Manu und Nadine töten wahllos Männer, Frauen und Kinder: „Während der Kerl es ihr besorgte, hat sie an die Szene vom Nachmittag gedacht, wie Nadine die Frau an der Wand zermatscht hat, wie sie dann von der Knarre zerfetzt wurde. Bestialisch, wirklich. So gut wie ein Fick.“
Was soll man dazu sagen? Die Filmkritiker haben sich seit vielen Jahren rund um das Genre „Splatter“ einige Kriterien zurechtgelegt. Als Literaturrezensent ist man dagegen angesichts solcher Bilder und Gedanken immer noch darauf beschränkt, sie „verstörend“ oder „irritierend“ zu nennen. „Wölfe fangen“ ist ein guter Anlass, sich einmal Gedanken darüber zu machen, ob die Darstellung von Gewalt im Zusammenhang eines Kunstwerkes nicht doch mehr als nur eine Störung von außen ist. Der Titel der deutschen Übersetzung hat darum einen großen Vorteil. Er belässt das Skandalon im Innern des Buches, dort wo es hingehört, und sagt „lies mich“ statt „fick mich“.
Rette mich
Nicholas Sparks: „Das Schweigen des Glücks“. Heyne, München 2000. 367 Seiten, 36 DM
In den Büchern des amerikanischen Bestseller-Autors Nicolas Sparks dürfen die Männer noch Wölfe im herkömmlichen Sinn sein. Sie leben meist einsam und vom Leben enttäuscht in einer Hütte im Wald, gehen den Herdenmenschen, so gut es eben geht, aus dem Weg, und die Liebe ist für sie nur eine traurige Erinnerung.
In Sparks letztem, nunmehr viertem Roman „Das Schweigen des Glücks“ ist es Taylor McAden, der eine „Nase wie ein Wolf“ hat, seit seiner Jugend die Einsamkeit der Jagd sucht und sich auch sonst in den Wäldern wohler fühlt als unter Menschen. Doch dann verliebt er sich in Denise, die neu in die kleine Stadt in North Carolina gezogen ist, und Denise weiß, was gut für ihn ist: Taylor, der von einem Moment zum nächsten „trübsinnig“ ist, in dessen Gegenwart „Spannungen zu spüren“ sind und der sich obendrein als freiwilliger Feuerwehrmann immer wieder in selbstmörderische Situationen bringt, dieser Taylor muss gerettet werden. Auch wenn er das selbst noch nicht begriffen hat.
– „Ich will darüber nicht sprechen.“ – „Vielleicht kann ich helfen ...“ – „Du kannst nicht helfen“, unterbrach er sie, „außerdem geht es dich nichts an.“ – „Es geht mich nichts an?“, fragte sie entgeistert. „Wovon redest du? Du bist mir wichtig, Taylor, und es tut mir weh zu denken, dass du mir nicht genügend vertraust, um mir zu erzählen, was los ist.“
Denise ist die eigentliche Hauptfigur in diesem Roman, und Nicholas Sparks ist ganz auf ihrer Seite: „Das Schweigen des Glücks“ erzählt vom Engagement eines all-american girls, das ihr Recht auf den freien Zugang zur männlichen Psyche mit den liebevollen Waffen einer Frau erstreitet. Dabei hat sie als allein erziehende Mutter gleich noch mit einem anderen schweigsamen Mann zu kämpfen: mit ihrem kleinen Sohn Kyle, der unter „akustischer Auflösungsschwäche“ leidet und mit vier Jahren immer noch nicht richtig reden kann.
– „Hi, Kyle, wie geht es dir?“– Kyle antwortete nicht.– „Kyle, sag: „Mir geht es gut“, sagte Denise.– „Mia des dut.“
Zuletzt fließt der Redestrom dann unverstellt. Der große Taylor erzählt brav von einem schrecklichen Kindheitserlebnis, der kleine Kyle sagt laut und deutlich, dass es ihm gut geht, und insgeheim wissen beide, dass sie das alles allein Denise zu verdanken haben. „Thank You For Loving Me“ heißt ein Song auf der neuen CD von Bon Jovi, und Kunden, die Bücher von Nicholas Sparks gekauft haben, haben auch dieses CD gekauft, erfährt man auf den Seiten des Online-Buchhändlers Amazon.com. Vielen Dank für die Information.
Streck dich
Ursula und Benjamin Lebert: „Die Geschichte vom kleinen Hund, der nicht bellen konnte“. Mit Bildern von Hildegard Müller. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 28 Seiten, 29,80 DM
Unter einer akustischen Auflösungsschwäche leidet auch dieser Held: „Es war einmal ein kleiner Hund, der konnte nicht bellen. Sosehr er sich auch mühte, er brachte keinen Ton heraus. Er streckte den Hals, verrenkte die Zunge, doch nichts wollte aus seiner kleinen Schnauze kommen.“ So beginnt „Die Geschichte vom kleinen Hund, der nicht bellen konnte“. Mit gewissen Einschränkungen kann man sagen, dass es sich dabei um Benjamin Leberts zweiten Roman handelt.
Benjamin Lebert hatte im Frühjahr 1999 mit seinem Debüt „Crazy“ viel Erfolg und wurde mit seinen 17 Jahren als jüngster aller jungen deutschen Schriftsteller vom Literaturbetrieb sehr gefeiert. Auf den nächsten Roman dieses Autors hat man natürlich sehr gespannt gewartet. Eigentlich ist es darum nett, dass dieses zweite Werk nun nur knapp 30 Seiten hat und zudem unter der Mitarbeit von Ursula Lebert entstand, Benjamins Großmutter.
„Die Geschichte vom kleinen Hund, der nicht bellen konnte“ ist wie „Crazy“ eine Geschichte vom Erwachsenwerden. Das Bilderbuch, das Hildegard Müller mit feinem Strich und grobem Pinsel illustriert hat, erzählt vom Versuch, irgendwie in die Kommunikation mit der Welt einzutreten – und von den Schwierigkeiten, die dafür vorgegebenen Mittel und Wege zu nutzen. „Ist doch ganz einfach“, sagen die anderen Tiere, wenn der kleine Hund sie fragt, wie sie dieses ganze Muhen, Blöken und Quaken eigentlich zustande bringen. Es hilft nichts, nicht einmal Miauen kann der kleine Hund.
Es ist halt kein Spaß, nach seiner eigenen Stimme zu suchen. Benjamin Lebert, so hört man, hat sich derzeit zurückgezogen, um Salingers „Fänger im Roggen“ neu zu übersetzen. Auf seinen dritten Roman wird man noch etwas warten.
Paare dich
Roland Koch: „Paare“. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000. 334 Seiten, 39,90 DM
In der Welt der Erwachsenen ist die Einbauküche ein immer noch gültiges Zeichen für Beständigkeit. Man kann also verstehen, dass Christina sich Sorgen um die Zukunft ihrer Beziehung zu Jens macht: Bereits drei Jahre nach dem Einbau schaltet sich die Dunstabzugshaube jedes Mal ein, wenn die Schranktür darüber geöffnet oder geschlossen wird, die Spülmaschine verliert Wasser, und die Arbeitsplatte hat Risse bekommen.
Während Jens also an seiner akademischen Karriere arbeitet, versucht Christina an den langen, einsamen Tagen, die sie zu Hause verbringt, den geordneten Zerfall ihrer noch jungen Ehe mit innenarchitektonischen Tricks aufzuhalten: „Vielleicht ein paar Möbel, die diese gewollte Harmonie zerstören und alles wegrutschen lassen in einen neuen, verschobenen Zusammenhang ...“
„Paare“ heißt der neue Roman des Schriftstellers Roland Koch. Der Titel soll an John Updikes großen amerikanischen Gesellschaftsroman „Couples“ aus dem Jahr 1968 erinnern. Das ist natürlich etwas vermessen, aber Koch versucht tatsächlich so etwas wie einen geweiteten Blick auf die engen Verhältnisse der neuen deutschen Mittelklasse. Zwischen italienischem Rotwein, Designermöbeln und der Frage, ob man sich beruflich im Ausland orientieren sollte oder nicht, treiben Jens und Christiane genauso wie das befreundete Paar Ulrich und Doris durch den Alltag. Und wenn ihnen einmal langweilig wird, führen sie einfach ein Gespräch.
– „Fändest du es nicht schön, wenn wir ein Kind hätten?“– „Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen.“– „Ja, und, das ist doch keine Antwort.“– „Ich will jetzt ins Bett, ich bin müde.“– „Ich will eine Antwort.“– „Bist du wieder bei deiner Therapeutin gewesen?“
Es ist eigentlich schade, dass Roland Koch sich eine Geschichte um diese Dialoge herum ausgedacht hat. Er erzählt so engagiert von den Träumen, Hoffnungen und kleinen Fluchten, als könne er die Ahnung nicht ertragen, dass seinen Figuren kein Ausweg aus ihrer müden Durchschnittlichkeit bleibt. Der wahre deutsche Mittelstandsroman der späten 90er-Jahre und frühen Nullerjahre dagegen wird vermutlich nur aus solchen kreisenden Gesprächen bestehen, in denen jede Frage bereits die Antwort enthält und jede Antwort die nächste Frage. Es wird darin um Einbauküchen und Kinderwünsche gehen, um Jobs, Therapien und ISDN-Anlagen. Das ist natürlich nichts, was man nicht schon zur Genüge kennen würde. Trotzdem würde man diesen Roman gerne lesen.
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