MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON DIRK KNIPPHALS : Hohe Schule
Hans-Ulrich Treichel: „Über die Schrift hinaus“. edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000, 242 Seiten, 19,90 DM
Nicht wahr: Zurzeit spricht einiges dafür, dass sich unser netter, kleiner Literaturbetrieb in eine alte und eine neue Schule aufteilt. Wenn das tatsächlich so ist, gibt es eine ganz gute Methode, um herauszufinden, wer welcher Schule angehört: durch den Koeppen-Test. Wolfgang Koeppen, dt. Schriftsteller, geb. 23. 6. 1906, gest. 15. 3. 1996, hat bekanntlich in den 50er-Jahren in schneller Folge drei sog. gesellschaftskritische Romane geschrieben und dann bis zu seinem Tod auf den lang erwarteten Gesellschaftsroman hoffen und warten lassen. Ihn aber nie geschrieben.
Der Koeppen-Test fragt nun nach der Einschätzung dieses Autorenlebens. Wer es zu emphatisieren vermag, gehört der alten Schule an. Ihm wird auch der Adorno-Satz noch etwas sagen, nach dem einzig im Scheitern ein Werk noch gelingen kann. Überhaupt wird er einem gescheiterten Schriftsteller eine heldische Qualität zusprechen. Schließlich ist es nicht sehr lange her, dass das Scheitern eines Schriftstellers als Bild für das Nichtgelingen einer gut eingerichteten Welt gewertet wurde. Wer aber darüber die Schultern zuckt, der, so viel ist sicher, gehört dieser Schule nicht mehr an.
Hans-Ulrich Treichel, um dessen Essaysammlung es hier geht, hat zu Wolfgang Koeppen eine besondere Beziehung. Zusammen mit Dagmar von Briel gab er seine Gesamtausgabe heraus. Das ergibt ein starkes Indiz, Treichel der alten Schule zuzurechnen. Aber wie das eben so ist: Mit dieser Einordnung käme man nicht wirklich weit. Das zeigt schon Treichels kleines Koeppen-Porträt – zugleich ein dezenter Nachruf –, das der Band „Über die Schrift hinaus“ enthält. Mit seiner Mitherausgeberin hatte Treichel den schon altersmüden Koeppen in dessen Münchner Wohnung besucht. Es ging darum, mit Kürzeln wie „W.K.“, „kn.“, „Kpn.“ gezeichnete Artikel aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren Koeppen eindeutig zuzuordnen. Aber, ach, der konnte sich nicht erinnern und hatte wohl auch keine rechte Lust dazu. „Es ist so lange her, sagte er, warum soll man die alten Geschichten aufrühren.“ Treichel weiter: „Er seufzte und wir seufzten mit ihm.“
Ein schönes Seufzen! In ihm liegt der ganze, traurige Abschied von diesem Schriftsteller, aber es enthält noch mehr. Wer will, kann den Abschied von der Instanz insgesamt herauslesen, für die Koeppen sogar (oder gerade) als Nichtschreibender stand: von der Instanz des schriftstellernden Gegenkönigs zur Gesellschaft. Das Porträt dieses müden alten Mannes ist eine – dezente – Liebeserklärung und ein Abschied zugleich. „Eine Erinnerung an Wolfgang Koeppen“, so heißt dieses Stück im Untertitel. Aus der Perspektive eines Nicht-Mehr geschrieben.
Alte Schule? Ungebrochen würde Treichel das als unzeitgemäß empfinden. Aber zumindest sieht er keinen Anlass, seine literarischen Prägungen aus kunstgläubigeren Zeiten zu verhehlen. Warum auch? Dass diese etwas waghalsige Mischung aus Liebesbezeugung, Abschied und einer das Ganze abfedernden Ironie eine schöne Basis zur Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionsbeständen sein kann, zeigen die anderen Essays in dem Band.
Denen, die sich beim Schreiben verzehrten, Franz Kafka und Robert Walser, sind Studien gewidmet. Ansonsten behandelt Treichel Ernst Jünger, Arno Schmidt, Peter Weiss und Botho Strauß, die großen Uneindeutigen also. Das Glanzstück aber ist seine Auseinandersetzung mit der Lyrik Hans-Magnus Enzensbergers. Den, so wird deutlich, wollte Treichel erwischen. Er macht sich auf die Suche danach, wo sich hinter den von Enzensberger so überaus klug und souverän angewendeten lyrischen Verfahren das Ich des Autors eben doch rührt (entgegen dem Enzensberger-Vers: „Ich rühre mich nicht“). Wie Treichel auf zwölf Seiten fast schon detektivisch nach Enzensbergers Ich fahndet und schließlich ausgerechnet im stotternden Vers „Ich f-f-f-fehle“ auch findet, das ist – Achtung, Wortspiel! – nicht alte oder neue, sondern hohe Schule.
Eine Hymne
Hans-Ulrich Treichel: „Tristanakkord“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 238 Seiten, 38 DM
Die Frage ist, wo Hans-Ulrich Treichel sich selbst erwischen würde. Denn die Ebene, der er nicht nur in seinem Enzensberger-Essay nachspürt, die nämlich, auf der sich die Spuren des Lebens in der Schrift wiederfinden, ist in seinem letzten Roman „Tristanakkord“ gut versteckt. Zu gut versteckt möglicherweise. Während Treichels Erzählung „Der Verlorene“ zuletzt gerade deswegen allseitig gelobt wurde, weil sie hinter einer melancholischen Oberfläche die schöne Einfühlung in eine authentisch missglückte Jugend in der Nachkriegszeit bot, ging der „Tristanakkord“ zwar nicht gerade unter, konnte aber den Erfolg des Vorgängers nicht fortsetzen. Mögliche Einfühlung schadet dem Verkauf ja keineswegs.
Nun ist der Roman ganz gewiss keine bloße Illustrierung der Essays. Aber die erwähnte Ebene ist durchaus vorhanden; wer durch die parodistische Konstruktion dieses Buches hindurchschaut, landet bald bei ernsthaften Themen: dem Verlorensein eines Provinzlers in der großen, weiten Welt und sogar beim Stand der Avantgarde, hier der Neuen Musik, in unserer bunten Medienwelt. Der„Tristanakkord“ ist eine Persiflage auf die gute, alte Tradition des Musikromans, die aber doch, wie alle guten Persiflagen das machen, ihren Gegenstand sehr ernst nimmt. Treichels in seinen Nähe- und Distanzverhältnissen schillernde Beziehung zur alten Schule ist hier in eine Erzählhaltung der leichten Abgründe beziehungsweise abgründigen Leichtigkeit übersetzt.
Erzählt werden die Erlebnisse des jungen Berliner Doktoranden Georg Zimmer, der durch Zufall in die Gefilde der Musikavantgarde gerät. Ein Freund vermittelt ihm den Job, die Memoiren des, so die Ausgangsposition, weltberühmten Komponisten Bergmann Korrektur zu lesen, und damit fangen die Probleme an. Bergmann erweist sich als hoch merkwürdige Gestalt.
Seine Kompositionen tragen Titel wie „Pyriphlegethon“ oder „Elysian Fields“. Er ist Choleriker, eitel, hasst Barpianisten, jettet zwischen Schottland, New York und Sizilien hin und her. Manchmal scheint er auf einem anderen Planeten zu sein, fuchtelt mit den Armen und stößt Zischlaute aus. Dann komponiert er gerade.
Bergmann: mindestens ebenso sehr Künstlerdarsteller wie Künstler. Aber eben doch kein Scharlatan. Seine Musik funktioniert durchaus, wie ein Konzert in New York zeigt. Und es gibt noch die Hymnenepisode. Darin soll Georg Zimmer mal eben eine Hymne schreiben, die Bergmann vertonen kann. In seiner Not wandelt Zimmer Georg Heyms Gedicht „Hymne“ kurzentschlossen ab. Aus den Versen „Unendliche Wasser rollen über die Berge / Unendliche Nächte kommen wie dunkele Heere“ macht er, da die Hymne, so Bergmann, „schön und betörend“ ausfallen soll: „Tiefblaue Meere erheben sich aus der Dürre / Leuchtende Tage ziehen herauf aus dem Staub“. So leicht ist die Avantgarde zu kopieren! Neue Schule!? Freilich durchschaut Bergmann den Schmu. Er verschmäht die Hymne und lässt Georg Zimmer mit der Erfahrung zurück, dass es ein bisschen mehr braucht, jemanden aus der alten Schule aufs Kreuz zu legen. So dass es insgesamt bei Treichels ambivalentem Schul-Verhältnis bleibt.
Hunde und Banjo
J. M. Coetzee: „Schande“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 288 Seiten, 38 DM
Auch in „Schande“, dem viel, aber längst noch nicht genug gelobten und vor allem, wie man hört, auch nicht genug gelesenen Roman des Südafrikaners J. M. Coetzee (noch nicht mal das „Literarische Quartett“ soll hier groß was bewegt haben), hat die Musik große Bedeutung. Und zwar hat David Lurie, die Hauptfigur, am Anfang des Buches, das seine Lebenskrise zeigt, „seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff“. Am Ende aber ist er „ein verrückter Alter, der mitten unter den Hunden sitzt und sich etwas vorsingt“.
Diese Beschreibung ist in allen Einzelheiten ernst zu nehmen. David Lurie, der am Anfang Literaturprofessor war, sitzt schließlich tatsächlich mitten unter Hunden; er arbeitet in einem Hundeheim, das in Wirklichkeit („Es wird immer schwerer“) eine Institution zur einigermaßen zärtlichen Einschläferung von herrenlosen Hunden ist. Und Lurie singt sich in Gesellschaft dieser Hunde wirklich etwas vor: Ausgerechnet auf einem Banjo zupft er die Noten für eine Art Kammeroper zusammen. Sie soll von Teresa Guiccioli, einer verlassenen Geliebten Lord Byrons, handeln.
Hunde als Zuhörer, ein Thema wie aus einer längst vergangenen Zeit, ein lächerliches Instrument: Fast scheint es so, als ob Coetzee alles tut, um Luries Komponistenhobby als Witz darzustellen. Und doch – „Teresa ist vielleicht die Letzte, die ihn noch retten kann“, so heißt es einmal. Und an einer anderen Stelle sucht Lurie in „dem Chaos von Klängen eine einzige authentische Note der ewigen Sehnsucht“. Klingt nach alter Schule. Und in der Tat: Irgendwo in diesem Buch ist ganz im Ernst noch der Verheißungsaspekt der Musik auf ein irgendwie doch geglücktes Leben drin. Wenn auch wie ein unendlich ferner Abglanz am Himmel.
Nur dass man eben Wendungen wie „einzige authentische Note der ewigen Sehnsucht“, die nun wirklich eigentlich über den Kitsch hinaus ist, sehr gut ertragen kann. Das liegt an der Härte, mit der Coetzee diesen David Lurie ausleuchtet – Prosa, wie mit dem Seziermesser geschrieben, so heißt es dann in den Besprechungen gerne; und zumindest so viel stimmt an so einer Aussage, dass man sich beim Lesen darüber freut, dass hier eine andere Figur unter die Lupe dieses erbarmungslosen Erzählers geraten ist und eben nicht man selbst. Angstlust, einmal anders.
Doch kann wer will gerade in dieser Unbarmherzigkeit des Erzählers so etwas Altmodisches wie die Moral des Buches sehen. Wie Coetzee die Konflikte stets bis auf die äußerste Spitze treibt, das ist schon eine Kunst für sich. Und so muss David Lurie, bevor er den kleinen Trost seiner hingezupften Töne erhält, erst am Boden angekommen sein. Weil er eine Affäre mit einer Studentin hatte, ist er von der Uni geflogen (von wegen, er hat das Sexproblem im Griff). Sein Haus verfällt. Seine Tochter ist von Schwarzen vergewaltigt worden, ohne dass er – eingesperrt auf dem Klo – eingreifen konnte. Mit aller Konsequenz demontiert Coetzee hier ein Leben.
Natürlich liegt es nun nahe zu sagen, dass Coetzee die Probleme Südafrikas in dem Schicksal David Luries spiegelt. Nur ist es so nicht. Lurie bleibt eine individuelle Figur. Aber was man sagen kann, ist, dass die Härte, mit der Coetzee seiner Figur begegnet, der Schärfe der politischen Konflikte durchaus ebenbürtig ist.
Neue Schule, alte Schule, bei manchen Büchern ist so eine Frage nur noch egal. „Schande“ ist so ein Buch.
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