MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON BRIGITTE WERNEBURG: Der Klops
Gilbert Adair: „Adzio und Tadzio. Wladyslaw Moes, Thomas Mann, Luchino Visconti: Der Tod in Venedig“. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich 2002, 128 S., 17 €
Eine simple, dennoch überraschende Frage: Wer war eigentlich der Knabe, der Thomas Mann in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ als Vorbild des Tadzio diente? Und vor allem: Wie schön war er? Der britische Autor Gilbert Adair, der dieser Frage nachging, hat darüber einen brillanten Essay verfasst, kaum länger als die Mann’sche Novelle selbst.
Zuvor allerdings muss er seine Recherchen samt einigen Kinderbildern des polnischen Barons Wladyslaw Moes – übrigens Adzio, nicht Tadzio gerufen – in einem Artikel veröffentlicht haben. Anders könnte Adair in seinem Buch „Adzio und Tadzio“ nicht Tarquin Winot, den Helden in John Lanchesters Bestseller „Die Lust und ihr Preis“ zitieren, der zufällig auf diesen Artikel stieß und befand: „Das betreffende Kind kann man ehrlicherweise nur als Klops bezeichnen.“
Die Komplikation beim Einholen dieser Stimme zur Schönheit Adzios kommt nicht von ungefähr. Adair spürt nämlich nicht nur den Unterschieden zwischen der realen Begegnung von Autor und Kind im Grand Hôtel des Bains am Lido, ihrer Literarisierung und späteren Verfilmung durch Luchino Visconti nach. Adairs höchst raffinierte Kunst des Essays beginnt eben dort, wo er diese Unterschiede ihrerseits noch einmal unterscheidet und mit diesem Schritt eine ganze Reihe weiterer Geschichten, Figuren, Zitate und bedenkenswerter Fragen findet, die seinen Essay zu einer intelligenten und kurzweiligen Betrachtung machen: über die Schönheit und ihr Verfallsdatum (nämlich dann, wenn das liebliche Antlitz, das Mann betörte, nur noch als Klops gilt, oder in dem Moment, wenn Björn Andresen in Viscontis „Alla Ricerca di Tadzio“ erscheint); über das homosexuelle Verlangen und seine mehr oder minder tolerablen phädophilen Abwege; über den Begriff des pitch, dem Robert Altman in „The Player“ ein Denkmal errichtete; über den polnischen Dandy, der Adzio selbst im kommunistischen Polen blieb, und darüber, wie dieser, 70-jährig, sich selbst als 11-jährigem Knaben in einem Pariser Kino wiederbegegnet.
Gangster-Lifestyle
Claudio Besozzi: „Wohin mit der Beute? Eine biographische Untersuchung zur Inszenierung illegalen Unternehmertums“. Paul Haupt Verlag, Bern 2001, 24,90 €
Merkwürdigerweise hat sich das Erscheinungsbild des Dandys vielleicht noch am besten bei der Mafia erhalten. Zumindest in deren Darstellung durch die Medien. Die „Road to Perdition“ ist mit elegant gekleideten Leichen gepflastert. Mit der Eleganz scheint zunehmend auch das Bild einer unternehmerischen Kultur der Unterwelt in die öffentliche Meinung Einzug zu halten.
Doch wie steht es tatsächlich um den Gangster als Boss? Um diese Frage zu beantworten, schaute sich der Schweizer Soziologe Claudio Besozzi den Lifestyle bekannter Mobster und Mafiosi in Amerika und Sizilien an. Anhand ihrer autobiografischen Aufzeichnungen sowie biografischen Berichten von Journalisten und Wissenschaftlern ging er ihrer Einstellung zu Familie, Arbeit und Gesellschaft nach und deckte ihre Vorlieben bei Kleidung, Essen, Autos und Genussmitteln auf.
Der Titel seiner Untersuchung „Wohin mit der Beute?“ zielt nicht nur auf den demonstrativen Konsum, der den Mitgliedern der kriminellen Syndikate zugeschrieben wird. Er zielt auf die Frage, was von den horrenden Summen zu halten ist, die stets genannt werden, wenn über das Phänomen der Geldwäsche gesprochen wird. Der Lebensstil der Mafia lässt nun aber laut Besozzi nicht darauf schließen, dass große Summen ihren Weg in die Legalität finden. Während der Hedonist sein Geld beim (meist illegalen) Glücksspiel und den Frauen verliert und als Räuber sowieso alles umsonst bekommt, neigt der kriminelle Unternehmer dazu, seine Gewinne in die eigenen Unternehmen zu reinvestieren, die überwiegend illegal sind. Schmutzige Geschäfte werden eben mit schmutzigem Geld gemacht. Obwohl „Wohin mit der Beute?“ eine kluge soziologische Entmystifizierung der Mafia darstellt, findet man in der Untersuchung trotzdem immer wieder Spuren und Fragmente der Geschichten, die uns die Mafia-Filme von Coppola, Scorsese, Damiano Damiani oder jetzt Sam Mendes’ erzählen – was die Sache erst richtig spannend macht.
Elegante Lösung
Paul Maenz: „Art is to change … Skizzen aus der Umlaufbahn“. Lindinger + Schmidt, Regensburg 2002, 17,80 €
Die Beobachtung, dass niemand Kenntnis von der bedeutenden Kunstsammlung eines Mobsters hat, stützt Besozzis Argument, der Weg vom Don zum Boss werde, trotz aller Anpassung im Lebensstil, nur selten erfolgreich beschritten. Das muss aber nicht heißen, dass in viele große Kunstsammlungen nicht schwarzes Geld floss. Geld freilich, das eher aus den üblichen Immobilienschiebereien stammt als aus dem Bereich des Drogen- oder Menschenhandels.
Von Paul Maenz’ Sammlung im Neuen Museum Weimar weiß man. Und dabei ist der noble Geber noch nicht einmal Immobilienhändler. Als junger Mann sah er seine Karrierewünsche in der Werbung durch 68 empfindlich erschüttert. Obwohl Rudi Dutschke in seinen Augen die wichtigere Figur war als Beuys, machte der Kunstaficionado nach einem Experiment mit dem Head-Shop „Pudding Explosion“ seine Passion zur Profession und gründete 1970, zusammen mit Gerd de Vries, die Galerie Paul Maenz in Köln. Eröffnet wurde sie mit Hans Haacke, tollkühn in Frontstellung zum mächtigsten Sammler des Rheinlands, Peter Ludwig. Er hatte Haacke zur gleichen Zeit wegen politischer Unbotmäßigkeit von einer Ausstellung des Wallraff-Richards-Museum ausgeschlossen.
In seinen „Skizzen aus der Umlaufbahn“ mit dem Titel „Art is to change …“ schreibt Maenz über seine ökonomisch wie ästhetisch asketischen Anfangsjahre: „Heute ist kaum mehr vorstellbar, welch enormes Vergnügen vor mehr als dreißig Jahren der Versuch bereitet hat, die Kunst auf den Begriff zu bringen.“ Dank der Anthologie, in der der Galerist und Sammler Katalogbeiträge, Interviews, Reden und Zeitschriftenartikel bündelte, verspürt man heute allerdings sehr wohl das Vergnügen, das sein Versuch bereitet, die Kunst in knappen Geschichten zu erhellen.
In einem wichtigen „Gespräch über die Liebe zur Kunst“ findet sich das Bekenntnis zur Schönheit in der Kunst, allerdings im Sinne dessen, was in der Mathematik eine „elegante Lösung“ heißt. Es findet sich große Skepsis hinsichtlich der Kunstmarktspekulation: „Man kann so schnell fallen, dass man zu fliegen vermeint.“ Es gibt Antworten auf die Frage, warum er ohne weitere Erklärung 1990 seine Galerie von einem Tag auf den anderen zusperrte. Und es gibt die schöne Erläuterung darüber, wie die Kindheit des Kunstwerks in der Galerie beginnt.
Die Pflanze
Amélie Nothomb: „Metaphysik der Röhren“. Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. Diogenes Verlag, Zürich 2002, 159 S., 16,90 €
Die Kindheit Gottes trug sich in Kobe, Japan, zu. Von ihr erzählt Amélie Nothomb in „Metaphysik der Röhren“ und beginnt gleich mit ihren frühesten Erinnerungen, nachdem sie in ihrem unerhört komischen Roman „Liebessabotage“ über ihr Seelenleben als Siebenjährige Auskunft gab. Gott also ist Amélie Nothomb, Tochter eines adligen belgischen Diplomatenehepaars. Die Eltern des neu geborenen Mädchens sind allerdings zunächst ratlos – ihre Tochter rührt und regt sich nicht, sie verharrt in reiner Passivität. Verständlich, denn „Gott lebte nicht, er existierte“. Und zwar in Form einer Röhre, sind seine einzigen Beschäftigungen doch Schluck- und Verdauungsvorgänge. Gott ist weich wie ein Schlauch, und er kennt die absolute Ruhe des Zylinders: „Er filterte das Universum und behielt nichts davon zurück.“ Die verstörten Eltern nennen ihr drittes, aus der Art geschlagenes Kind schließlich „die Pflanze“.
Doch nach zwei Jahren erwacht die Pflanze plötzlich und brüllt ohne Unterlass. Zum Glück rettet die weiße Schokolade der Großmutter Eltern und Kind, das nun weiß, wie wahre, tiefe Freude mundet. Von jetzt an ist die kleine Amélie ein artiges und aufgewecktes Kind. Dass seine Existenz als Gott nicht wirklich gefährdet ist, liegt am Kindermädchen Nishio-san, das in seinem Schützling, japanischer Tradition entsprechend, eine okosama erblickt, „eine ehrenwerte kindliche Exzellenz“. Doch ihre Hoheit ist nicht fehlerlos: Sie ist ein Mädchen. Deshalb zurückgesetzt, geht ihr auf ebenso grausame wie lächerliche Weise das Vertrauen in die Freundlichkeit der Welt verloren.
Schmerzhaft komisch, weil unverschämt selbstverliebt, erzählt Nothomb von einem jener tragischen Unfälle, die Kindern immer wieder zustoßen, hinter denen sich aber tatsächlich ihr Selbstmordversuch verbirgt.
Kindheit in Berlin
Aura Rosenberg: „Berliner Kindheit“. Hg. v. Friedrich Meschede. Steidl Verlag, Göttingen 2002, 176 S., 38 €
Eine Kindheit in Berlin mag gewöhnlicher sein als eine in Kobe. Doch hier wie dort ist Schokolade eine Sensation. Selbst wenn ein Jahrhundert darüber vergangen ist. „Es war die Süßigkeit der Schokolade, mit der sie mir mehr im Herzen als auf der Zungen zergehen wollte“, bekennt Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, die wiederum Aura – man bedenke den Namen – Rosenberg als Vorlage diente, eine „Berliner Kindheit“ heute zu fotografieren.
1991 war die New Yorkerin zusammen mit ihrem Mann, dem amerikanischen Künstler und DAAD-Stipendiaten John Miller, und ihrer Tochter Carmen nach Berlin gekommen, nach Deutschland, das ihre eigenen Eltern 1939 verlassen mussten. Als ihre Tochter hier in den Kindergarten kam, begann Aura Rosenberg ihr Fotoprojekt, das die Literatur mit der Kindheit ihrer Tochter und der Erinnerung an die Kindheit der Großeltern (um die Zeit, als Benjamin an seinem Kindheitstext schrieb) verbinden sollte.
Das Kapitel, in dem Benjamin von seinem zu Herzen gehenden Schokoladengenuss berichtet, heißt übrigens „Die Farben“. Denn mehr noch als die Süßigkeit entzückte ihn der „funkelnde Verhau“ des bunt verpackten Schokoladenstapels. Die Farben sind es aber, die Rosenbergs sachliche und genaue, oft von einem Stativ aus aufgenommene Fotografien ganz in die Gegenwart rücken. Ihre Fotografien illustrieren Benjamins Text so wenig wie seine Miniaturen das einzelne Foto rechtfertigen, auch wenn der Schokoladenstapel ganz identisch mit dem zu sein scheint, den Benjamin beschrieb. Sie haben ihr ganz eigenes Recht. Denn Aura Rosenberg geht es nicht vorrangig um die Einheit der Differenz zwischen 1900 und 2000, zwischen Text und Bild, die im Foto der Schokolade zu finden wäre. Sie besteht auf dem Unterschied.
Damit könnte aber ihr großzügig aufgemachter, schöner Bildband die Wahrnehmung von Benjamins Berliner Kindheit neu bestimmen. Nicht grundlos verfällt Friedrich Meschede im Nachwort des Bandes auf den Vergleich mit der legendären Verfilmung der Novelle „Der Tod in Venedig“.
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