Lyrik und andere Lebenshilfen

Ein skandinavischer Almanach für das Restjahr  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

In Skandinavien heult manchmal schon der Winter durchs Wohnzimmer, wenn der Rheinländer noch die Balkonpflanzen gießt und der Bayer in seinem Biergarten sitzt. Nicht von ungefähr hält sich daher wohl auch der notorische Kurzschluß, derartige Witterungsbedingungen müßten einen unmittelbaren Einfluß auf die Mentalität der Betroffenen ausüben — was sich schließlich nirgendwo so deutlich zeige wie im Kunstschaffen dieser Völker. Weshalb auch sonst liebten wir die Schwermut und den Fatalismus des Nordens?

Wir wollen dem gewachsenen Vorurteil nicht vehement, sondern leise, aber dafür um so nachdrücklicher widersprechen, indem wir eine kleine Einführung geben in „die Kunst, den November zu überstehen“ (Gustafsson). Sie gipfelt in der Behauptung, daß diese Literatur mindestens ebenso durch treffsicheren Witz, melancholische Leichtigkeit, kühle Prägnanz, raffinierten Hintersinn und untergründige Heiterkeit glänze, wie man derlei Eigenschaften hierzulande mitunter vermißt. Aber wir bleiben gleichwohl im jahreszeitlichen Rahmen und daher beginnt die Reise im Herbst.

Dänischer Herbst

Seit das dänische Völkchen kürzlich gleich zweimal die Frechheit besaß, Europa zu düpieren, ist dieses Land jedem guten Europäer suspekt. Denn wer zuerst mit minimalem Mehrheitsaufwand Europa abwählt, um hernach mit einer kickenden Nachrückertruppe der Profi-Creme auch noch den Europameistertitel wegzuschnappen, der hat nichts anderes verdient als Europas geballte Verachtung. Obwohl man zugeben mußte: Gut gespielt haben sie!

Und immerhin gibt es dort ja auch den „großen Klaus“, wie er, in Anlehnung an Andersens Märchen, gerne genannt wird: Rifbjerg, Klaus, geb. 1931, ist in der dänischen Literatur-Oberliga eine Institution. Rifbjerg schreibt alles: Romane, Theaterstücke, Essays, Drehbücher, Feuilletons. Und Gedichte, immer wieder Gedichte. Sie bilden beinahe so etwas wie seine heimliche Autobiographie. Und Rifbjerg schreibt, wie die dänische Mannschaft spielt: ein bißchen verschmitzt, voller Witz, mal mit Tempo, mal mit der nötigen Ruhe, die man braucht, um einen gekonnten Angriff über mehrere Stationen hinweg vorzutragen. Er läßt den Ball ein wenig in den eigenen Reihen laufen, um dann mit einem geschickten Steilpaß die Lücke zu finden: in den alltäglichen Beobachtungen, in den bruchstückhaften Erinnerungen, in der biegsamen Sprache seiner Gedichte. Und plötzlich zappelt der Ball im Kopf des Lesers!

Exemplarisches — das Älterwerden, die Resignation, die Verhältnisse — nimmt er persönlich und setzt sich persönlich als Exemplar aus: „Nun, da ich die Kraft verloren habe/ und mein Haar ausfällt und die Wut in dem Märklin- Baukasten liegt, hab ich ein neues Verhältnis zu meinen Ketten./ Es erweist sich als notwendig, die Legierung zu diskutieren und mein Geschick, den tieferen Sinn“; und das Ende des Gedichts: „dieser Mund, der pausenlos redet und/ das Loch über der Leber, durch das/ die Adler Blicke werfen auf/ meine werte, halbverdaute/ Radioaktivität.“ („Prometheus gefesselt“)

Was die Gedichte, bei aller „politischen Privatheit“, so erstaunlich macht, ist ihre gekonnte Mischung aus ironisch gebrochener Larmoyanz und unterschwelliger Aggressivität, unterstützt von einem „wilden Humor“ (H.M. Enzensberger).

Lutz Volke hat das Unmögliche unternommen und die Torraumszenen eines lyrischen Werkes in einer gelungenen Auswahl unter dem Titel „Uhrenschlag der aufgelösten Zeit“ für den Berliner Verlag Volk und Welt zusammengestellt. Neben den nach 1965 entstandenen Texten einer „neuen Einfachheit“ finden sich auch solche aus dem modernistisch geprägten Frühwerk.

Kürzlich erschien nun im Münsteraner Kleinheinrich-Verlag der Gedichtband „Septembersong“. Ein glänzendes „Spätwerk“! „Der August kennt den September noch nicht/ schon aber stülpt sich alles nach innen, das Licht/ steht immer tiefer, Samenkapseln platzen, die Gravitation/ wird größer, zieht alles herab/ das meiste fällt/ bums bums/ das meiste fällt/ bums/ es fällt herab/ es wird still.“

Einige Zeilen aus dem viereinhalb Seiten langen Titelgedicht, das zugleich in komprimierter Form die durchgängigen Motive des Gedichtbandes aufzeicnet. Verwandlung, Zerfall, Tod, die Natur natürlich und die Melancholie des Betrachters, der September als die fünfte Jahreszeit und Ausdruck dieses Bewußtseins. Das sind lauter klassische Lyrikthemen, na klar, und doch ist es anders. Denn nach dem getragenen Anfang beschleunigt Rifbjerg plötzlich, die Natur hört auf ihre Gesetze, der Autor auf die Ironie und ... er läßt die Bewegung der Zeilen austrudeln wie einen Apfel, der ins Gras plumpst.

Natur und Geschichte, das eigene, langsame Sterben gegen den abstrakten Trost der Begriffe, das sind die extremen Pole. Trotz ihrer vordergründigen Einfachheit: keine Kalauerpoesie, die auf Pointen abzielt: „Unter der Brücke im Schatten/ die Forelle dunkel.// Schritte.// Unter der Forelle im Licht/ der Schatten dunkel.“ („Transformation“)

November in Reykjavik

Geradezu die Umkehrung dieser Form der Poesie scheint der Isländer Stefán Hördur Grímsson zu betreiben. Das Alltägliche wird von leichter Hand angehoben und mit sanftem Pathos unterlegt. Die Dinge bleiben in angemessener Distanz, behalten aber ihre Gestalt und die scharfen Konturen, etwa so, als ob man ein Fernglas umdrehen würde. Ein Gefühl der Fremdheit stellt sich ein, das Grímsson durch seine eigentümlichen Bilder erzeugt, freilich nicht als bloßen Effekt, sondern als existentiellen Zustand.

„Morgen schweigsam wie geahnter Flügelschlag/ über der Ahnung von gesunkenem Land/ bis aus dem stillen Schneetreiben/ irgendwer ein Auto fährt/ auf genagelten Reifen/ und mit voll gerüstetem Licht/ hinein in noch ein schwarzes Loch—/ das einer ungefähren Ortsbestimmung gemäß/ zum Weltall gehört/ Auf den Tempel zum Gedenken des flugunfähigen Vogels/ ist morgenländische Trauer gefallen.“ („Novembermorgen“)

Für den Menschen beginnt der Kosmos gleich vor der Garage. Das ganz Kleine und das unermeßlich Große, die Natur und die Abwesenheit des Menschen oder seine — fast immer zerstörerische — Anwesenheit in ihr sind Grímssons Themen. Wie ein Zen-Meister hockt er in einem erkalteten Lavafeld aus wenigen Worten, und diese wenigen Worte sind zugleich der Versuch, alles, wirklich alles zu umfassen. Eine Lyrik in der Nähe zum Aphorismus: „Wahrheit/ ist grenzenlos/ wie Lüge/ Letzere ist wahrscheinlicher/ aber beide haben einen gefälligen Ton.“ („Zusammenspiel“)

Der 1920 auf Island geborene Grímsson gehört zur Gruppe der sogenannten „Atomdichter“, die mit den traditionellen Formen brachen und in der Zeit des Kalten Kriegs nach neuen, angemesseneren Ausdrucksmitteln suchten. Grímssons Gedichte bewegen sich im Spannungsfeld einer seltsamen Feierlichkeit, die sich jedoch auf Andeutungen beschränkt. Bei allem Pessimismus, der sie kennzeichnet, und bei der spürbaren Zurückgezogenheit dieser Lyrik kann sich Grímsson ein flüchtiges Augenzwinkern oft nicht verkneifen: „Scht! Laßt uns gut zuhören, die Scharfrichter des Waldes singen...// Sie singen/ mit ausgestreckten Armen und umtanzen/ das lebende Gebüsch.“ („Kreuze“)

Winter in Stockholm

Ein neuer Gedichtband von Lars Gustafsson — sein letzter erschien 1982 auf deutsch — und enthält, neben einigen anderen Gedichten, zehn Elegien und fünf (bereits ältere) Balladen. Sie bilden das Herzstück des schmalen Buches, in dem auch sonst ein elegisch-getragener Ton vorherrscht. Herr Gustafsson hat vor einiger Zeit die Heimatländer gewechselt, die värmländischen Seen und Sommer kommen nur noch in der Erinnerung vor, und eine gewisse Wehmut merkt man ihm an; nun trifft Herr Gustafsson persönlich seine „Vorbereitungen für die Wintersaison“, so der Titel des Buches. Es sind vor allem Verlustlisten, Suchmeldungen, Nachforschungen über Abhandengekommenes in jeder Hinsicht.

Im Zweifel über ein lohnendes Ergebnis berechnet Gustafsson in einem Gedicht die „Betriebskosten“ eines Schrifstellerlebens, den Verbrauch an Schreibfedern, Papier und guten Freunden, den Verschleiß durch Reisen, Arbeit und gescheiterte Ehen. Für das Resümee dieses Lebens genügt, wie die letzte Zeile ironisch, selbstbewußt, aber auch ein wenig kokett feststellt: „Eine Adlerfeder und ein halber Bogen Papier.“

Die ungelebten, die möglichen, die spät begonnenen Leben, die vergessenen und verlegten Gegenstände, die Gerüche der Kindheit, die vergehende Zeit, sie alle werden pfleglich hervorgeholt und in Ruhe betrachtet. Ein „Besuch beim Augenarzt“ fördert nicht nur die nachlassende Sehkraft zutage, sondern auch das Verschwinden einer gültigen Vision, einer allgemeineren Hoffnung. Das liest sich alles sehr angenehm und ohne große Widerstände, wird aber hier und da zum recht privaten Gemurmel eines erfolgreich älter gewordenen Herrn, der sich, als Wahlamerikaner, über sein Gefühl der Fremdheit im Stockholm von 1990 wundert. Man vermißt ein wenig das Überraschende (oder Überraschte), und manchmal wirkt sogar das Staunen über die eigenen Veränderungen wie für das Gedicht inszeniert: „Täusche ich mich—/ oder ist die Luft hier dünner?// Könnte auch hier, unter diesem Himmelsstrich, eine Schwalbe Halt finden mit ihrem Flügel?// Im Badezimmerspiegel zeigt sich schon/ der exzentrische alte Mann,// der allmählich im Begriff ist,/ sich aus meinem Gesicht zu schälen;// drahtig, sonnenverbrannt, faltenreich,/ mit immer kälteren blauen Augen,// der letzte von den Männern, welche in mir stecken,/ noch nicht ganz fertig, doch schon angedeutet.“ („Elegie auf die alte Mexikanerin und ihr totes Kind“)

PS: Ein Lichtstreif aus Schweden

Fürs neue Jahr, mit den besten Empfehlungen von Willy Kyrklund: sein Bändchen „Vom Guten“. Willy ist Philosoph, und Willy hat Humor, was ihn uns natürlich besonders sympathisch macht. Außerdem kann Willy auch plaudern, über gewisse Schweinehauer, die im Bogen aus dem Kiefer wachsen und mit der Zeit so lang werden, daß sie bei bestimmten Schweinearten auf einigen Inseln der Molukken unter Umständen sogar in die Stirn eindringen. Willy zeigt uns das ganze Elend der Evolution. Und er kann sich entrüsten! Über Gott, der sich nicht kümmert. Was ein Fehler ist. Denn Willy ist es um das Gute als Idee zu tun, als Möglichkeit und als Lebensform — wogegen sich ja nun beim besten Willen nichts einwenden läßt. Und für ein derartiges Ziel müssen die Mittel der Erkenntnis auch mal etwas weiter gesteckt werden. Daher bedient sich Willy nicht nur des philosophischen Diskurses, sondern auch des Gedichts und des Exempels, der mathematischen Formel und der Fabel.

„Eines Abends wurde ich ganz unverhofft bei Gott zum Tee eingeladen. Ich fühlte mich selbstverständlich sehr geehrt und fand mich pünktlich ein. Gott hatte bei der Gelegenheit die Gestalt eines Krokodils angenommen. Ich erdreistete mich zu fragen, warum, und Gott antwortete: ,Weil das deiner Auffassung von mir am besten entspricht‘.“

Willy — oder besser: Herrn Kyrklund — ist es gelungen, uns den ganzen Facettenreichtum eines derartig komplexen Begriffes, wie es „Das Gute“ nun mal ist, in knapper Form nahezubringen. Wobei die wohlgesetzte Kürze der Beispiele durchaus die Unterhaltung noch zu steigern vermag.

Lehrreich die Geschichte über den Illusionisten Josua und seine Assistentin Magdalena mit ihrem Zirkustrick der Speisung der 500. Vortrefflich die kleine parawissenschaftliche Abhandlung über einen ebenso kleinen Sonnenstrahl. Erschütternd der Bericht über Julius und Albertine, zwei wahrhaft Liebende: Julius hatte sich für die ewige Seligkeit qualifiziert, Albertine hingegen fand keine Gnade in den Augen des Herrn. „Nicht alle aber können Gnade finden, wenn die Gnade als Begriff existieren soll.“ Jedem philosophisch einigermaßen gebildeten Menschen muß das unmittelbar einleuchten.

Handlich im Format. Für alle Lebenslagen. Sollte in keiner Ratgeberbibliothek fehlen. Kostet Vierzehnachtzig.

Klaus Rifbjerg: „Septembersang/ Septembersong“. Gedichte, zweisprachige Ausgabe. Mit Zeichnungen von Knud Nielsen. Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Kleinheinrich-Verlag, Münster 1992, 140 Seiten, 48 DM.

Ders.: „Uhrenschlag der aufgelösten Zeit“. Gedichte. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Lutz Volke. Verlag Volk und Welt, Berlin 1991, 172 Seiten, 28 DM.

Stefán Hördur Grímsson: „Geahnter Flügelschlag“. Gedichte, zweisprachige Ausgabe. Auswahl und Übersetzung aus dem Isländischen von Franz Gislason und Wolfgang Schiffer. Nachwort von Wolfgang Schiffer, Kleinheinrich-Verlag, Münster 1992, 132 Seiten, 48 DM.

Lars Gustafsson: „Vorbereitungen für die Wintersaison“. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser Verlag, 1992, 76 Seiten, 26 DM.

Willy Kyrklund: „Vom Guten“. Aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach, Biobliothek Suhrkamp (Bd. 1076), 1991, 102 Seiten, 14,80 DM.