piwik no script img

Prêt-à-porterLycra unter dem Skalpell

■ Wenn die Distanz fehlt, die ein Foto schafft: Ermüdend viel Nacktheit bei Katherine Hamnett und Dirk Bikkembergs auf den Pariser Modenschauen

Im Palais de Justice: Ich sitze auf einer Bank, als mir ein sehr schönes Mädchen entgegenkommt. Sie trägt ein Jackett, das weit offensteht und ihre nackten kleinen Brüste freilegt. Ihre Brustwarzen sind hellrosa, ohne den geringsten bräunlichen Schimmer. Sie geht so dicht an mir vorbei, daß ich sie berühren könnte, wenn ich die Hand ausstrecken würde. Während sie herankommt, sehe ich auf ihren Busen. Wo sollte ich auch sonst hinsehen? Auf das einzige Kleidungsstück, das sie sonst noch trägt, auf das winzige Lederbikinihöschen? Auf den Schnitt ihres Jacketts? Auf ihr Gesicht? Ein kurzer Blick auf ihr Gesicht zeigt, daß dies der heikelste Blick überhaupt ist. Ihr Gesicht sagt deutlich, daß sie nicht wünscht, als Person wahrgenommen zu werden. Tatsächlich ist sie überhaupt nicht anwesend. Ich versuche mich auf den Schnitt des Jacketts zu konzentrieren (deshalb bin ich schließlich hier, nicht wahr).

„Die meisten Einkäufer und Fotografen sind Männer – die wollen unterhalten werden. Also zeigen wir nackte Busen“, erklärte Katherine Hamnett nach ihrer Schau in London. Die Pariser Designer sehen es genauso. Wo man am ersten Tag der Prêt- à-porter-Schauen auch hinkam: überall nacktes Fleisch. „Es gibt ermüdend viel Nacktheit in dieser Saison“, erklärte die US-Zeitschrift Women's Wear Daily. Auch eine Art, professionell- sachlich damit umzugehen. Aber es stimmt nicht. Ermüdend ist es nicht. Wenn die Distanz fehlt, die ein Foto schafft oder ein Abstand von 50 Metern, dann ist diese präsentierte Nacktheit schockierend und schwer auszuhalten.

Dirk Bikkembergs zeigte viele Gürtel im Palais de Justice: Hosen, Korsetts, Anzüge – alles war auf die unterschiedlichste Weise mit Gürteln befestigt. In die Hosen war meist auf Bauchnabelhöhe ein Loch hineingeschnitten, durch das der Gürtel gezogen wurde, der dann um die nackte Taille oberhalb des Hosenbundes weiterlief. Die Jacken hatten meist keine Knöpfe, sondern große Metallösen, durch die ein Gürtel ähnlich wie ein Schnürsenkel gezogen wurde. Bei manchen Kleidungsstücken war der Gürtel einfach um den Hals geschlungen und baumelte zwischen den nackten Brüsten. Es war eine einfache und lustige Idee. Allerdings hat Bikkembergs eine Art, Hosen und Jacken zu schneidern, daß einem das Lachen vergeht. Seine Anzüge sind von einer bewundernswürdigen Präzision, für die das Adjektiv „schnittig“ noch zu schwach erscheint. Es sieht aus, als würde er den Stoff mit einem geschliffenen Rasiermesser und nicht mit einer Schere bearbeiten. Außer Leder verwendete er Jersey, Lycra und Wollstoffe. Die Hauptfarbe der nächsten Sommersaison scheint Braun zu werden: Bikkembergs verwendete es in allen Schattierungen, die an Gold oder Bronze erinnern, kombiniert mit Schwarz. Der zweite Teil seiner Kollektion zeigte noch einmal dieselben Kleidungsstücke, diesmal allerdings in der schwer erträglichen Kombination Neongelb und -orange, zusammen mit Weiß.

Die wunderbarste Kollektion an diesem Tag zeigte der Japaner Yoichi Nagasawa. Die Schnitte waren eigentlich einfach: Gerade Hosen, Röcke, die schmal, aber nicht eng waren, und leicht ausgestellte Kleider. Aber er hat eine virtuose Art, verschiedene Materialien zu Mustern zu verarbeiten! Manche Kleider waren aus Chiffon, Satin und Samt. Die verschiedenen Stoffe schlängelten sich in Kreisen um den Körper, bildeten geometrische Muster oder waren in unterschiedliche Streifen gelegt. Selbst bei den nichtirisierenden Stoffen hatte man häufig den Eindruck einer optischen Täuschung. Bei Chiffonkleidern waren große Abnäher nach außen gelegt, so daß sie Blütenmuster bildeten oder einfach den Schwung der Hüfte nachzogen. Am schönsten waren die Kleider aus Spitze: Ein hellgelber Stoff, der von weitem wie eine Kunstfaser aussah, endete plötzlich in einem unregelmäßigen Muster aus „echter“ brauner Spitze. Es sah aus, als wäre der Stoff von Rost angefressen. Nagasawa ist ein großer Melancholiker. Anja Seeliger

Fortsetzung folgt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen