piwik no script img

Lübecks Bürgermeister Michael Bouteiller: „Sie reagieren nur mit blinder Wut“

Wir dürfen bei all den Zuschriften, die ich in den vergangenen Tagen erhalten habe, nicht vergessen, daß auch viele warmherzige, von tiefem Respekt und großer, aufmunternder Zustimmung getragene Botschaften dabei sind. Über sie habe ich mich sehr gefreut. Sie geben mir viel Kraft für die politische Arbeit.

Aber: Es hat keinen Zweck, die Augen vor denjenigen Zeitgenossen zu verschließen, die auf meinen Vorstoß für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen nur mit blinder Wut und abgrundtiefem Haß reagieren können.

Der überwiegende Teil der Haßbotschaften sprießt jedoch im Sumpf eines völlig überholten Denkens. Denn es sind Schlagworte und Losungen derjenigen, die nur in den alten Traditionen denken können. Sie sehnen sich nach einer autoritären Gesellschafts- und Staatsauffassung zurück. Am liebsten würden sie uns alle zurück ins Kaiserreich – ersatzweise nach „Großdeutschland“ in den Grenzen von 1937 – schaffen wollen.

Es ist wahrscheinlich so, daß sich dieser nationale und nationalsozialistische Bodensatz vor allem durch die Wende in der Berichterstattung von der Lübecker Brandkatastrophe ermuntert fühlt. Erst macht man vermeintlich rechtsradikale Jugendliche zu Tätern – dann soll es auf einmal einer der Ausländer selbst gewesen sein.

Der allein auf die Täter fixierte Journalismus, den ich von Anfang an kritisiert habe, hat in diesem Fall den Deckel vom Dampfkessel genommen. Nun lassen alle diejenigen Druck ab, die sich zunächst nicht hervortrauten und denen die ganze Richtung in unseren Städten mit dem Ziel einer größeren Demokratie, einer Liberalisierung und eines offenen Umgangs miteinander immer schon zuwider war. Sie pochen auf ihre Ruhe. Sie wollen „endlich wieder Ordnung“ haben. Sie gieren nach Leitbildern im Sinne von „deutschen Tugenden“.

Die Briefe machen aber auch deutlich, daß in unserer Gesellschaft das Sündenbockprinzip immer noch große Bedeutung hat. Es gilt weiterhin die Erkenntnis von der Analyse des Faschismus, daß sich gesellschaftlich Benachteiligte zur Abwehr eigener Ängste diejenigen heraussuchen, die vermeintlich unter ihnen selbst stehen. Diese Funktion, die im Faschismus die Juden und die Bolschewisten übernehmen mußten und in einigen wirren Hirnen noch immer einnehmen, wird heute aktiviert in der Reihenfolge Arbeitslose – Obdachlose – Ausländer – Asylbewerber. Ich bin pessimistisch. Mit Argumenten kommt man da nicht weiter.

Dies gilt aber auch für diejenigen Briefeschreiber, die versuchen, mit wohlgesetzteren Formulierungen Angriffe gegen mich zu fahren. Sie sind nicht selten beseelt von einer verhängnisvollen, rechtsradikalen Gedankenwelt, die bis hinein in Kreise der CDU zu finden ist und mit der die alten Ängste geschürt werden – übrigens nicht nur in der Asyldebatte.

Die Herren Frey und Haider, aber auch sich seriöser gebende, die von einer „Asylschwemme“ und ähnlichem reden oder etwa eine „durchraßte“ Gesellschaft an die Wand malen – ein Begriff des christsozialen Herrn Stoiber aus Bayern –, leisten gemeinsam diesem Denken Vorschub!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen