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Lübecker Anklage bleibt in Beweisnot

■ Selbst nach dem Auftritt des Hauptbelastungszeugen Jens L. vor dem Lübecker Landgericht kann die Staatsanwaltschaft Safwan Eid nicht der Brandstiftung überführen. Der Sanitäter kämpft mit Gedächtnislücken

Lübeck (taz) – Korrekt die Erscheinung, ein schlaksiger Mann von 26 Jahren, Rettungssanitäter aus Passion, Controller in einem Supermarkt von Beruf. Jens L. betrat um 9.22 Uhr gestern den Schwurgerichtssaal der Großen Strafkammer des Lübecker Landgerichts. Der Zeuge, auf dessen Aussage sich die staatsanwaltschaftliche Anklage gegen Safwan Eid maßgeblich stützt. Und ohne den Richter Rolf Wilcken vermutlich überhaupt nicht bereit gewesen wäre, die Hauptverhandlung zur Brandkastastrophe im Lübecker Asylbewerberheim an der Hafenstraße zu eröffnen.

Zuvor hatten Eids Anwältinnen vergeblich versucht, Staatsanwalt Michael Böckenhauer aus dem Verfahren zu nehmen, da er möglicherweise als Zeuge in Betracht käme: Für dubios hielten Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter einen Vorfall vom 8. Juli, bei dem Böckenhauer einem Treffen mit dem Zeugen Jens L. beiwohnte, das nicht den Ermittlungen galt, sondern dem polizeilichen Zeugenschutz. Richter Wilcken lehnte nach kurzer Beratung ab – dann wurde der Hauptbelastungszeuge zum Showdown geladen.

Ruhig antwortete L. auf Wilckens Fragen. Ohne seine Stimmlage zu verändern, sagte er, daß Safwan Eid ihm im Rettungsomnibus „vielleicht unter Schock“ berichtet hat: „Wir waren's.“ Eid schüttelte dabei leicht den Kopf. Sonst griente er, nicht mehr so gelassen wie während der ersten beiden Prozeßtage, schien teilnahmslos. Erst als Jens L. anfing, sich in Widersprüche zu verstricken, schaute Eid wieder gelassener. Das war, als der frühere Eisenhüttenstädter allzuoft betonte, sich nicht genau erinnern zu können – nicht daran, ob er allein oder mit Matthias H. zum Rettungseinsatz fuhr; nicht daran, ob er zuerst diesem oder auch anderen erzählt hat, was er von Safwan Eid gehört haben will.

In echte Schwierigkeiten kommt L., als der Richter ihn nach dem Ort fragt, wo er Safwan Eids Eingeständnis gehört hat. „Im Bus“, sagt der Zeuge. Aus den Vernehmungsprotokollen zitiert der Vorsitzende Richter daraufhin, daß er doch sonst gesagt habe, am „Einsatzort“. L. daraufhin: „Der Bus war der Einsatzort.“ Im Publikum regt sich Gemurmel, Jens L. bleibt unaufgeregt. Doch die Zuhörer reagieren zunehmend ungehalten ob der betont unpersönlichen Sprechweise: Wo L. „ich“ sagen müßte, formuliert er stets mit „man“.

Andere Aussagen früherer Vernehmungen wußte er ebensowenig zu bestätigen, meist waren es kleinere, aber entscheidende Differenzen, die sich zwischen seinen gestrigen Worten und solchen vor mehreren Wochen oder Monaten auftaten: So sprach er gestern davon, Eid habe ihm erzählt, es hätte „Streit unter den Hausbewohnern“ gegeben und er hätte deswegen Benzin aus einem „Gefäß, Flasche, Becher“ auf die Treppe geschüttet. Wilcken: „Hatten Sie nicht früher von ,Familienvater‘ gesprochen?“ L. ganz ruhig: „Hundertprozentig weiß ich das nicht mehr.“ Und: Bei den ersten Vernehmungen im Januar hatte er noch „Benzin oder eine andere brennbare Flüssigkeit“ als Aussage zitiert. Warum er nicht gleich nach dem Geständnis zur Polizei gegangen war, erklärt L. mit seinem Glauben, als Rettungssanitäter unter eine Art Schweigepflicht zu fallen. Erst tags darauf habe ihn Matthias H. gedrängt, sein Wissen mitzuteilen – „und fünf Minuten nach Matthias' Anruf bei der Polizei rief die Kripo bei mir zurück“.

Morgens nach dem Brand, so L., habe er vor dem Spiegel gestanden und plötzlich angefangen zu weinen – offenbar eine Reaktion auf die schreienden und verletzten Menschen: „Ich dachte nur, ich konnte den Leuten nicht zurückgeben, was sie verloren haben.“ Um 16.06 Uhr ließ sich der Zeuge unter Eid nehmen und wurde vorläufig entlassen. Jan Feddersen

Debattentext Seite 10, Portrait Seite 12

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