Lotto-Forscher Mark Lutter übers Spielen: "Illusion ist sehr billig zu haben"
Mark Lutter, 32, Soziologe und Lotto-Forscher, erklärt: Die Spieler kommen aus der unteren Mittelschicht und wissen sogar, dass sie nichts gewinnen können. Wieso spielen sie dann?
taz: Herr Lutter, Sie haben das Glücksspiel mit allen Methoden der Sozialwissenschaft durchleuchtet. Was gewinnen Lottospieler?
Mark Lutter: Wenig. Es gibt attraktivere Spareinlagen, als jede Woche einen Lottoschein auszufüllen.
MARK LUTTER, geboren am 8. Oktober 1976, ist Sozialwissenschaftler. Er arbeitet derzeit als Visiting Scholar an der Harvard University.
Sie unterschlagen die Gewinnmargen. Die sind exorbitant, wenn ein Spieler mehrere Millionen mit einem Fünf- oder Zehn-Euro-Tipp gewinnt.
Das macht Lottospiele attraktiv. Der dreistellige Millionen-Jackpot ist ein Medienhype - aber man gewinnt ihn bekanntlich nicht sehr oft. Genau gesagt liegt die statistische Gewinnerwartung bei 1:140.000.000. Beim Roulette hat man immerhin eine Chance von 1:37. Die Realität der Lottospieler ist freilich eine ganz andere, nüchterne. Wenn man Lottospielen mal einen Moment als Investition begreift, dann haben die Spieler eine negative Rendite.
Was heißt das?
Wer spielt, hat schon verloren. Die Hälfte des Einsatzes geht weg. Lotto ist so gesehen ein besonders unfaires Spiel. Das Geld in Spareinlagen zu geben, brächte auf jeden Fall ein besseres Ergebnis - statistisch.
Muss man halt öfter spielen.
Das ist ein Trugschluss. Wenn man öfter zockt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man sich dem statistisch zu erwartenden Renditewert nähert - den halben Einsatz zu verspielen. Die Spieler wissen das übrigens…
…und spielen trotzdem. Ist das nicht irrational?
92 Prozent der Spieler haben uns gesagt, dass sie nicht damit rechnen, etwas zu gewinnen. Sie wissen, wie sinnlos ihr Treiben eigentlich ist. Nur acht Prozent behaupten, dass sie es für wahrscheinlich halten, zu gewinnen.
Was motiviert die Spieler?
Es geht um Fantasien.
Wovon träumen die Menschen?
Von einem besseren Leben. Lottospieler investieren jede Woche in diese Vorstellung. "Du brauchst einen Dollar und einen Traum", heißt eine amerikanische Lottowerbung. Die Menschen stellen sich vor, was sie sich alles leisten könnten. Zwei Drittel unserer Befragten sagten, sie träumen regelmäßig vom großen Gewinn. Das schwingt immer mit - zumal die lottoinduzierte Fantasiewelt billig zu haben ist: Sie kostet ein Los.
Eine Art Selbsttäuschung.
Die nicht aufs Glückspiel beschränkt ist. In den gesättigten Märkten, also da, wo man sich alle Bedürfnisse befriedigen kann, muss ein Produkt heute mehr bieten als den reinen Gebrauchswert. Eine Rolex oder eine Pradatasche sind mit Illusionen aufgeladen - gerade auch die Billigkopien. Sie suggerieren dem Besitzer, dass er einer höheren Klasse angehört. Das Konsumgut erfüllt Träume und Wünsche und erzeugt soziale Anerkennung.
Aber nirgends ist der Selbstbetrug so groß wie beim Lotto.
Die Leute erwerben nicht wirklich ein Los. Sie kaufen sich in der Lottoannahmestelle in Wahrheit die Baugenehmigung für ein Luftschloss. Sie haben imaginär Anteil an einem Leben voller Güter - wenigstens so lange, bis die Lottofee die Zahlen verkündet. Dieser Traum ist es, der sie die unfairen Regeln beim Lotto in Kauf nehmen lässt.
Wieso unfair?
Rund 20 Millionen Menschen spielen einmal wöchentlich. Fast die Hälfte der Bevölkerung nimmt einmal im Jahr an dem Spiel teil, bei dem sie höchstwahrscheinlich nichts gewinnt. Lotto ist ein Massenphänomen - mit sehr singulären Erfolgsaussichten. Der Staat organisiert das alles. Mit der Begründung, die Spielneigung der Bevölkerung eindämmen zu müssen.
Wer spielt? Die kleinen Leute, die ihrem Alltag entfliehen wollen?
Da muss man genauer hinschauen. Prekär Beschäftigte oder Arbeitslose spielen eher sporadisch, aber dann mit relativ hohem Einsatz. Sie setzen relativ am meisten Geld fürs Lotto ein.
Wer sind die Vielspieler?
Die untere Mittelschicht. Es sind jene, die glauben, dass sie auf einen Platz in der Gesellschaft gestellt sind, der unterhalb ihres Leistungsvermögens ist. Sie meinen, dass ihnen im Vergleich zu anderen mehr zusteht.
Die Spieler sind Leute, die sich ungerecht behandelt fühlen?
Das wäre eine Theorie. Es sind Menschen, die Vollzeit arbeiten und die leidlich Geld haben, um sich einen Lottoschein zu kaufen. Aber ihr Job genießt keine Reputation. Sie haben das Gefühl, dass für sie die formalen Aufstiegswege versperrt sind.
Aber das, was sie da hinaufklettern wollen, ist doch eine Fantasieleiter.
Es sind vorwiegend Leute ohne gymnasiale Bildung. Sie wissen, dass ein Lottogewinn für sie die einzige Möglichkeit bleibt, sozial aufzusteigen. Viele sind unzufrieden, weil sie schuften, aber dafür nicht die richtige Anerkennung bekommen. Daraus entsteht eine Spannung, die mit dem Lottospiel abgebaut wird. Sie fühlen sich ungerecht behandelt - also nehmen sie an einem Glücksspiel teil.
Obwohl dieses Spiel ungerecht ist?
So hart steht sich das nicht gegenüber. Es kommen noch andere Motive hinzu. Lottospieler haben ein Thema. Es ist für sie eine Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Und ein großer Teil spielt, weil es Spaß macht und interessant ist. Ungefähr sieben Millionen Bürger spielen in Tippgemeinschaften, mit moderatem Einsatz. Der Traumaspekt verschwindet dabei nicht völlig, aber er tritt in den Hintergrund. Die Tippgemeinschaft macht die Leute sozusagen vernünftiger. Manche Spieler begreifen Lotto als Investment. Eine kognitive Fehlannahme.
Sind die Leute zu doof, das abgekartete Spiel zu durchschauen?
Das haben Sie gesagt. Jedenfalls sinkt die Spielneigung mit der Höhe des Bildungsgrades. Es gibt auch Verzweiflungsspieler, die hoffen, ihr Schicksal durch einen hohen Gewinn radikal wenden zu können.
Was sagen die Lottospieler selbst zu den minimalen Gewinnchancen?
Allein der Zufall entscheidet, das reizt Angehörige unterer sozialer Schichten, weil andere Faktoren ausgeschaltet werden. "Ich schätze am Lotto besonders, dass jeder die gleiche Chance hat - unabhängig von Herkunft oder Talenten", dem stimmen 89 Prozent aller Lottospieler zu.
Wie viel investieren die Leute?
17 Euro setzen die Lottospieler pro Monat ein. Das ist der Durchschnittswert. Bei den Vielspielern sind es 30 Euro.
Lottorausch sieht anders aus. Ruinieren kann man sich davon nicht.
Die Extremzocker sind durch Befragungen naturgemäß schwer herauszufinden. Aber selbst wenn es in der unteren Schicht nur drei bis vier Prozent des verfügbaren Einkommens sind, das Lottospieler einsetzen, so findet eine Umverteilung von unten nach oben statt - unter staatlicher Aufsicht.
Um wie viel Geld geht es?
Es werden fünf Milliarden Euro aus Glücksspielen für den Fiskus erwirtschaftet, knapp ein Fünftel des Steueraufkommens der Länder. Die staatlichen Einnahmen aus Glücksspielen sind höher als die aus der Gewerbesteuer. Lottospielen ist damit ein sehr hoch besteuertes Gut.
Lotto ist doch keine Steuer!
Aber es wirkt so. Lotterien sind staatliche Veranstaltungen, bei denen 39 Prozent der Einnahmen garantiert einbehalten werden. Der Staat hält das Lottomonopol, er stellt das Spiel sogar unter Strafe, wenn er selbst nicht beteiligt ist. Nur die Hälfte des Erlöses schüttet er wieder aus, 13 Prozent gehen in die Verwaltung, den Rest behalten die Finanzminister. Man kann das Lotto als Steuer ansehen. Und das Geschäft, das da abgewickelt wird, ist gleich doppelt ungerecht.
Warum das?
Bei den Nachfragern, also den Spielern, sinkt der Anteil der Lottoausgaben kontinuierlich mit dem Einkommen. Das verletzt das wichtige Prinzip, dass eine Steuer nur entsprechend der Leistungsfähigkeit der Besteuerten erhoben werden sollte. Bei den Begünstigten der Lottogelder ist es gerade umgekehrt. Da profitieren die höheren Schichten. Das Geld fließt zwar auch in Institutionen wie die Arbeiterwohlfahrt. Überwiegend aber wird zugunsten der oberen Schichten verteilt, es werden kulturelle Zwecke gesponsert oder Kunsthallen finanziert.
Sind Lotterien nicht genau zu diesem Zweck erfunden worden?
Als Einnahmequellen für spezielle Ziele. Die ersten Lotterien fanden in den Städten des frühen Handelskapitalismus in Norditalien und Flandern statt, um Hafenanlagen zu finanzieren. Später geht es um nationale Kraftakte, etwa die Besiedlung von Jamestown, dem ersten Vorposten Englands in Amerika. Die Harvard-Universität bezahlte mit einer Lotterie eine ihrer ersten Bibliotheken. In Deutschland, wo das Lottospiel nahezu hundert Jahre lang verboten war, wurde es Mitte der 50er-Jahre wieder eingeführt - für den Wiederaufbau.
Was ist daran ungerecht?
Auf den ersten Blick nichts. Bei genauerem Hinsehen kann man aber erkennen, dass der Staat aus den früher zweckgebunden und befristeten Einnahmen einen festen Posten in seinem Budget macht. So ist es heute in den Bundesländern. Bayern oder Hamburg stellen das Lottogeld komplett ins Staatsbudget. Übersetzt heißt das: Die unteren Schichten werden mit der Traumagentur Lotterie dazu verführt, den allgemeinen Haushalt zu decken.
Immer noch besser, als wenn private Wettbüros die Unterschichten vollends ruinieren - um des reinen Profits willen.
Das ist die offizielle Begründung für das Lottomonopol. Der Staat schützt die Menschen vor der Spielsucht. Er steuert die Illusionsmaschine gewissermaßen auf moderate Art. Dennoch sollte man sich auch bei der Analyse des Lottomarkts eben keinen Illusionen hingeben. Der Job, den der Staat da macht, ist nicht so ehrenvoll, wie er als Bewahrer vor dem Lottorausch tut. Das sieht man am besten daran, wie ungerecht er die Einnahmen umverteilt.
Warum sollte der Staat beim Lottospielen gerechter vorgehen als in anderen Bereichen wie etwa der Gesundheit, Bildung oder Steuern. In all diesen Politikfeldern begünstigt die Regierung die gehobenen Schichten - zulasten der unteren Mittelschicht.
Empirisch mag es richtig sein, was Sie sagen. Aber normativ kommen wir so nicht weiter. So viel muss man vom Staat erwarten: dass er die sozialen Folgen des Glücksspiels ausgleicht und nicht etwa ausnutzt. Wir wollen doch nicht bei George Orwell landen. Bei ihm war die wöchentliche Lotterie "die einzige öffentliche Veranstaltung, für die die Proleten noch Aufmerksamkeit übrig hatten".
Was schlagen Sie vor? Das Glücksspielmonopol abzuschaffen?
Nein. Die Länder sollten durch gezielten Einsatz der Lottogelder die sozialen Folgen abfedern, die sie durch die Veranstaltung der Lotterien verursachen.
Was heißt das konkret?
Wenn, verkürzt gesagt, die nichtgymnasialen Schichten die Lottosteuer zahlen, dann sollen sie auch davon profitieren. Der Staat könnte die Lottogelder dafür einsetzen, die benachteiligten Mittel- und Unterschichten durch die Verbesserung ihrer schlechten Bildungschancen zu begünstigen. In den USA ist das gängige Praxis, weil Lotterien Bildungsprogramme finanziell unterstützen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin