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Lotters Transformator Wachstum. Eine Zwangshandlung

Der Wachstumszwang ist autoritär. Aber ein Zwang zur Reduktion wäre auch gegenaufklärerisch. Wie funktioniert dann die qualitative Wachstumsökonomie?

Von WOLF LOTTER

Teil I dieses Wachstumsessays erschien unter dem Titel Mehr oder weniger in taz FUTURZWEI 20/2022 und kam zu dem Ergebnis: Ohne Wachstum keine Transformation und Demokratie.

Materielles Wachstum nach Art der Industriegesellschaft und ihrer Leidenschaft, dem Verpulvern fossiler Energie, schadet dem Klima – was am Ende nichts anderes bedeutet als: Schadet unsereins.

Das ist unbestreitbar, und dennoch ist allein diese Feststellung, wenn man es bei ihr belässt, ein Dilemma. Es ist wie mit den Russen und dem Erdgas und uns. Wenn man erst mal seine Energieversorgung zu sehr drauf abgestellt hat, dass Putins Pipelines den Stoff liefern, ist es zu spät. Wir sind Junkies, denen klar ist, dass sie an der Nadel hängen, immerhin, das ist schon was, denn es führt dazu, dass endlich drüber nachgedacht wird, was man besser machen kann mit dem materiellen Wachstum. Wie es von der reinen Quantität in die Qualität übergeführt werden kann. Allerdings braucht man dafür auch Kompromisse. Denn wir hängen, wie wir schon im ersten Teil dieses Beitrags gesehen haben und hier wieder sehen werden, vom materiellen Wachstum zu stark ab, als es von einem Tag auf den anderen absetzen zu können. Wer über Abhängigkeiten redet, muss auch wissen, warum es sie überhaupt gibt. Was wäre die Alternative? Vermutlich Gewalt, Armut und nochmals Gewalt.

Die Revolutionen der Menschheitsgeschichte sind ausnahmslos aufgebaut auf materiellem Mangel, auf Hunger, Armut, materieller Ungerechtigkeit, zu geringer Teilhabe. We are living in a material world, and we are material girls. Wir verdanken dem materiellen Wachstum den Umstand, überhaupt über die Frage nachdenken zu können, wie viel materielles Wachstum gut ist, wann es zu viel ist, wie wir Schadensbegrenzung betreiben und welche Maßnahmen der Teilhabe und Gerechtigkeit wir politisch ansetzen. Nichts von dem ginge, wenn wir ständig um die nackte Existenz kämpfen müssten.

Doch wer macht sich das schon klar? Je mehr die Leute haben, desto selbstverständlicher gehen sie damit um – übrigens auch mit dem Verzicht, den sie anderen empfehlen.

Was heute geschieht, kann man bereits ab 1940 bei Joseph Schumpeter nachlesen, dem großen Ökonomen, der Karl Marx auf die Füße der Wissensgesellschaft gestellt hat. In seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie lesen wir, dass die, die am meisten vom Kapitalismus profitieren, die sind, die sich dessen am wenigsten bewusst sind.

Nun muss niemand dankbar sein für die Industrialisierung, die daraus stammende Teilhabe, den Fortschritt. Die Frage aber bleibt, wie man dauerhaft, also nicht durch eine Enteignung nach Gutsherrenzeitalter, ein sozial ausgleichendes, nachhaltiges, ökologisch auskömmliches und faires System schafft, ohne dass es Wachstum gibt.

Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger beschäftigt sich mit dem Thema Wachstumszwang. Keynesianer, Neoklassiker, die alten Lager in der Ökonomie also, halten das gleichermaßen für falsch. Das könnte schlicht daran liegen, dass sich die vermeintlich linken und vermeintlich konservativ-rechten Ökonomen nichts anderes vorstellen können als ihre gemeinsame Basis, die Industriegesellschaft und deren Denkweise. Wie heißt es in dem Sprichwort so schön: Für einen Hammer sieht alles aus wie ein Nagel. Den Wachstumszwang, den Binswanger anspricht, verursachen Staat, Politik, Konzerne, Aktionäre, Gewerkschaften, Arbeitnehmer und Konsumenten gleichermaßen. Sie kennen keine Alternativen. Binswanger, der dabei auch auf die Arbeiten seines – als Klassiker der sozialökologischen Theorie – anerkannten Vaters Hans Christoph Binswanger aufbaut, geht es mit seiner Theorie aber darum, erst zu verstehen, warum die ökonomische Realität so ist, wie sie ist, um sie dann verändern zu können.

Fragen wir mal nach:

Herr Binswanger, was ist der Wachstumszwang? Warum gibt es den eigentlich? Wo fängt der an, auch historisch, und wo führt er hin?

Mathias Binswanger : Der Wachstumszwang beginnt mit der Industrialisierung und der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Heute betrifft dies die gesamte Weltwirtschaft. Begründet ist der Wachstumszwang letztlich in der Tatsache, dass eine Mehrheit der Unternehmen längerfristig nur Gewinne machen kann, wenn auch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts BIP stattfindet. Und Gewinne sind wiederum notwendig, damit Unternehmen längerfristig überleben können. Es gibt nur die Alternativen: wachsen oder schrumpfen. Kaum wächst die Wirtschaft nicht mehr, beginnen Unternehmen vermehrt Verluste zu machen und es kommt zu Entlassungen, was wiederum bei anderen Anbietern zu Verlusten führt. Um eine solche Abwärtsspirale zu vermeiden, braucht es Wachstum.

Wo bleiben da die Bösen, wo bleibt da die Moral?

Der Wachstumszwang besteht nicht darin, dass uns geldgierige Kapitalisten mit der Peitsche zu immer mehr Produktion zwingen, oder die Menschen so gierig sind auf immer noch mehr materiellen Wohlstand. Der Zwang besteht in der Vermeidung der sonst drohenden Abwärtsspirale. In dieser Hinsicht ist Wachstum in der kapitalistischen Wirtschaft alternativlos. Diese Notwendigkeit des Wachstums ist längerfristig zu verstehen. Es kann immer wieder Jahre geben, in denen das Wachstum ausbleibt. Aber die langfristigen Wachstumserwartungen müssen bestehen bleiben.

Aber viele kleine Unternehmen wollen gar nicht groß wachsen. Viele Leute finden, sie haben schon genug. Was ist mit denen?

Der Wachstumszwang ist ein makroökonomisches Phänomen. Der Unternehmenssektor als Ganzes muss positive Gewinne erzielen. Oder anders ausgedrückt: Die Gewinne der erfolgreichen Unternehmen müssen die Verluste der nicht erfolgreichen Unternehmen übersteigen. Auch in einer erfolgreichen Wirtschaft ist es normal, dass immer einige Unternehmen Konkurs gehen und aus dem Wirtschaftsprozess ausscheiden. Deshalb gibt es für kleine Läden oder Gewerbetreibende durchaus Potenzial, sich aus dem Wachstumsprozess auszukoppeln…

... das klingt doch gut, wir werden also nicht gezwungen.

Naja, es scheint so, denn das Wachstum kann auch woanders stattfinden, und die Gewinne der nicht wachsenden Unternehmen lassen sich so durch den wachsenden Teil der Wirtschaft quersubventionieren. Heißt konkret: Der lokale Anbieter von Biolebensmitteln muss nicht wachsen. Er kann trotzdem überleben, weil Menschen mit hohem Einkommen, die in der traditionellen Wachstumswirtschaft ihr Geld verdienen, bei ihm relativ teure Biolebensmittel kaufen. Auf die Dauer wird es aber selbst für einzelne Unternehmen schwierig ohne Wachstum. Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin (IÖW) hat im Jahr 2013 einmal eine Liste von wachstumsneutralen Unternehmen publiziert. Einige Jahre später zeigte sich, dass ein erheblicher Anteil davon doch gewachsen ist. Und von den nicht wachsenden Unternehmen gerieten einige in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Welche Rolle spielt der Staat im Wachstumszwang?

Der Staat spielt indirekt eine Rolle über die Zentralbank. Nur ein funktionierendes, stabiles Bankensystem mit einer Zentralbank kann das für die Finanzierung zusätzlicher Investitionen notwendige Geld schaffen, welches eine Bedingung für das Wachstum ist. Darüber hinaus ist der Staat auch sehr direkt an Wachstum interessiert. Solange es Wachstum gibt, kann sich der Staat stets weiter verschulden, weil garantiert ist, dass er in Zukunft auch höhere Steuereinnahmen hat. Generell wird die Wirtschaft ohne Wachstum einkommensmäßig zu einem Nullsummenspiel beziehungsweise zu einem Kuchen. Wenn jemand ein größeres Stück vom Kuchen will, muss zwangsläufig jemand anderes ein kleineres Stück bekommen. Also können beispielsweise die Löhne nur steigen, wenn die Gewinne sinken oder umgekehrt. Das sind auch politisch höchst unangenehme Situationen, die sich durch Wachstum entschärfen lassen. Solange der Kuchen wächst, können alle ein größeres Stück davon bekommen.

Was ist mit Degrowth? Kann Schrumpfen und Rückbau eine Lösung sein?

Degrowth ist vor allem realitätsfremd. Man möchte sich nicht ernsthaft mit dem Thema des Wachstumszwangs auseinandersetzen, denn das würde ja die Degrowth-Konzepte infrage stellen. Und natürlich ist es global betrachtet auch eine Elite-Diskussion. In den meisten Ländern dieser Welt möchten die Menschen auch noch mehr materiellen Wohlstand haben, wofür auch Wirtschaftswachstum erforderlich ist. Allerdings habe ich grundsätzlich Verständnis für die Degrowth-Bewegung. Man kann sich in hochentwickelten Ländern schon die Frage stellen, warum man noch mehr Wachstum will, wenn dieses Wachstum die Menschen im Durchschnitt nicht mehr glücklicher oder zufriedener macht und in der Umwelt Schäden anrichtet. Doch es ist in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht möglich, einfach aus dem Wachstumsprozess auszusteigen, wie sich das Degrowth-Anhänger vorstellen.

»Wir müssen lernen, Ambivalenz zu akzeptieren und mit ihr umzugehen. Das ist letztlich das, was wir früher einmal Weisheit genannt haben.«

Mathias Binswanger

Geht es Ihnen mit den Kritikern Ihrer Theorie ein wenig wie dem Boten, den man für die Botschaft prügelt, weil man sie nicht hören will?

Es gibt schon einen Unwillen, sich mit größeren, komplexeren Fragestellungen wie dem Wachstumszwang zu beschäftigen. Das gilt auch für Fachleute, die durchaus wissen sollten, worüber sie reden. Aber Ökonomen sind zufrieden, wenn sie irgendein Teilproblem mit einem Modell oder empirischen Untersuchungen bearbeiten können, um damit einen Artikel in einer angesehenen Fachzeitschrift zu publizieren. Probleme der realen Welt, die einen Blick über den Tellerrand hinaus verlangen, sind dafür wenig geeignet und damit auch nicht interessant. Und engagierte Klimaaktivisten oder Grüne wollen meist sofort Maßnahmen und Lösungen für ein System, dessen Funktionsweise sie nicht verstehen. Die Mehrheit der Menschen bewegt sich auf sozialen Medien in der eigenen Blase, wo die eigene Sicht stets bestätigt und verstärkt wird. Und da muss alles in ein Schema von Gut und Böse eingeteilt werden.

Komplexe Fragen entziehen sich aber einer billigen Dualität. Wachstum ist wie fast alles im Leben ambivalent. Wir müssen lernen, Ambivalenz zu akzeptieren und mit ihr umzugehen. Das ist letztlich das, was wir früher einmal Weisheit genannt haben.

Danke für das Gespräch.

Da haben wir es. Um es mit dem Kommunistischen Manifest zu sagen, sind wir gezwungen, uns und unsere Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Die Wachstumsfrage trennt nüchtern und romantisch, aber nicht nur das, sondern sie macht auch kenntlich, worum es uns heute gehen sollte – und was qualitatives Wachstum ist. Es geht um Selbstverwirklichung, um ein selbstbestimmtes Leben für alle. Das scheinen unkonkrete Begriffe zu sein, aber füllen wir sie mal aus: Das Recht auf den Unterschied, auf Unterscheidbarkeit. Der alte industrielle Fundamentalismus – und seine Betriebswirtschaft – kennt nur Zahlen, Massen, Mengen, Effekte um der Effekte willen. Aber was ist für uns drin, für das eine Leben? Qualitatives Wachstum ist eben auch, wenn man ruhig und ohne Autolärm wohnen und arbeiten kann, saubere Luft atmet – all das kostet quantitatives Wachstum, so wie die Freiheit, um die es im Krieg Putin-Russlands gegen die Ukraine und den Rest der demokratischen Welt geht. Wir zahlen, um zu gewinnen. Und der Witz dabei ist, dass wir dabei noch innovativer, fortschrittlicher werden, und aus der Energiewende nicht nur ein Schlagwort wird, sondern auch ein Markt, der sich materiell auszahlt.

Qualitatives Wachstum ist nicht nur persönlich, aber das Individuum ist dabei kein Störfaktor mehr. Es sagt uns mit allem, was es tut: Wir können auch anders. Halte das niemand für Kirchentag-Rhetorik: Die qualitative Wachstumsökonomie ist unromantisch, kaltherzig und klug. Sie sagt: Give the people what they want.

Nicht: Wir wissen, wann es genug ist – und was für euch gut ist. Der Wachstumszwang ist wie der Zwang zu Reduktion, autoritär und gegenaufklärerisch. Ihn aufzulösen ist ein harter Job, aber er wird schon getan. Je mehr Menschen nicht mehr in der Tretmühle der alten Arbeitswelt mittun, je mehr die Grundbedürfnisse respektiert und anerkannt werden, die Triebkräfte des persönlichen und der Identität zutage treten, desto schwächer wird die alte Notlösung, dass es die Menge macht, wo wir uns das Richtige nicht vorstellen können. Der Mensch wird wählerischer. Das ist der Übergang zu einer anderen Ökonomie.

Dabei nicht zu vergessen, auf welcher Ökonomie das Reich der Notwendigkeiten heute baut, ist die Voraussetzung dafür, schneller in eine bessere Welt zu kommen. Wahrscheinlich ist es wieder der Kapitalismus, der schneller ist als die alte Moral. Wenn bei Aldi aufs Tierwohl geschaut wird und die Qualität der Produkte steigt, hat das, auch wenn's wehtut, eben mehr Einfluss als diese Kolumne (und noch ein paar andere mehr).

Das ist gut so. Wer die alte Industriearbeit durch Netzwerkarbeit abschaffen will, hilft dem Klima mehr als tausend Petitionen – weniger Staus, weniger Autos, weniger Stress bedeuten aber mehr Wachstum bei der digitalen Infrastruktur und mehr Wachstum beim Wohn- und Arbeitsraum, der zusammenwächst.

Wenn es um das cleane, gute Wachstum der Wissensgesellschaft geht, das uns vom quick and dirty des Industriekapitalismus befreit, dann kann es gar nicht genug Wachstum geben. Aus Wachstum wird Entwicklung. Und aus Verbrauchern werden Selbstbestimmer.

Das alles geht, wenn man Transformation pragmatisch wachsen lässt – statt ihre Beschränkung romantisch zu verklären. Sehen wir unsere Beziehungen an, mit nüchternen Augen. Dann wächst mit der Vernunft auch die Lösung.

WOLF LOTTER ist Autor zum Thema Transformation, Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins und dessen langjähriger Leitessayist. Zuletzt erschienen: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber 2022 – 280 Seiten, 20 Euro

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Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.