Lotters Transformator: Mehr oder weniger

Ohne Wachstum gibt es keine Transformation und auch keine Demokratie. Wie aber kommt man vom quantitativen zum qualitativen Wachstum?

Foto: Brendan Conroy

Von WOLF LOTTER

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Am 18. April 2019 gab der slowenische Philosoph Slavoj Žižek eine Vorlesung an der University of Winnipeg, Thinking the Human nannte sich die. Dort erklärte Žižek, was ihm an der Linken heutzutage auf die Nerven geht: erstens das Moralisieren, zweitens, und das hat wiederum mit eins sehr viel zu tun, das Fehlen von einfachen Zielen, Antworten und grundlegendem Wissen. Wenn er, so Žižek, einen amerikanischen Linken frage, wie er vom Kapitalismus wegkommen wolle, dann bekomme er darauf einfach keine klare Antwort, nur Ausflüchte: »Lass uns erst den Kapitalismus abschaffen – dann sehen wir weiter.« Echt? Und darauf soll sich jemand einlassen, der noch bei Trost ist?

Wer, um das Kind beim Namen zu nennen, den Industriekapitalismus, die Ökonomie der schieren Massen und Menge, der Einheit und Vereinheitlichung, überwinden will, braucht mehr als eine vage Hoffnung und den Hang zum Verschieben, den man allgemein als Utopie ausgibt. Transformationsarbeit ist jetzt.

Wachstum?

Fortschritt?

Wohlstand?

Drei Begriffe, von denen sich die, die meistens darüber reden, entfremdet haben. Entfremdung ist, das hat uns Karl Marx gezeigt, eine Störung des Begriffs zwischen den Menschen und den Verhältnissen, in denen sie leben. Im 19. Jahrhundert befand sich das Epizentrum dieser Störung an der Schnittstelle von Proletariat und Fabrikarbeit. Heute ist die Entfremdung im Milieu der bildungsbürgerlichen Eliten und ihrer materiellen Grundlagen zu Hause. Sie können sich ihren Postmaterialismus leisten.

Sehen wir, weil es um die vielen anderen gehen muss, die sich keine intellektuelle Faulheit leisten können, die Wachstumsfrage mit nüchternen Augen an. Vielfach ist die Wachstumsangst der Bildungseliten durch Bildungsferne zu erklären. Wer von Ökonomie, Technologie, Geschichte wenig oder nichts weiß, dem wird schnell alles zu viel. Statt Vielfalt und Komplexität wird dann nur was Kompliziertes gesehen. Wachstum ist zunächst kein Übel, sondern gut und richtig, und das gilt natürlich erst einmal auch fürs quantitative, materielle Wachstum. Die Industriewelt hat reine Quantität erzeugt, Masse, die zunächst, das hat Joseph Schumpeter wunderbar dargelegt, denen nützte, die nichts hatten. Das starke Wachstum der Industriegesellschaft deklassierte, wenn man Geschichte nicht ignoriert, nämlich das Ancien Régime, die alten Eliten, die Fürsten und Könige, die alles hatten. Die Quantitätswachstums-Maschine des Kapitalismus aber läuft nur, wenn viele vieles bekommen, wenngleich auch nur von der Stange. In diesem Problem verheddert sich das System vielfach. Es kann sehr gut Normen und Einheiten produzieren, aber mit Unterschieden schlecht umgehen. Unterschiede, das sind ja auch die persönlichen Bedürfnisse, vor allem die.

Die Große Transformation dieser Zeit ist die, dass die Welt der Einheitsbedürfnisse der Industriegesellschaft, in der es nur ums Verbrauchen, das Konsumieren geht, wofür das quantitative Wachstum steht, in eine Welt übergeht, die Unterschiede bis ins kleinste Detail wahrnimmt.

Das gilt auf allen Ebenen. Nach dem Fressen kommt die Moral – und Moral, das ist ja immer auch ein persönlicher Anspruch, die Art und Weise, wie wir – jede und jeder – die Welt sehen. Kurz: Wissensökonomie, die den Industriekapitalismus ablöst, funktioniert nach einem anderen Muster. Statt viel Gleiches in großer Menge geht es nun ums Persönliche, um das, was Qualität ausmacht.

Es gibt den scheinbar banalen Satz, dass Qualität im Auge des Betrachters entsteht, doch die scheinbare Schnurre steht im Rang eines Naturgesetzes. Qualität ist eben nicht mehr nur eine Norm, sondern eine Sichtweise. Ob ich was gut finde, besser, ideal für mich, das hängt eben zunehmend nicht mehr von einer standardisierten Zuordnung ab. Qualität, sagen die Forscher, wird transzendent, abgehoben, allerdings nicht im Sinne von elitär, sondern von individuell.

Das war nie weg, auch während der Zeit der Industrialisierung. Je mehr das quantitative Wachstum regierte, desto kostbarer wurden Dinge, die es selten gab oder nur einmal. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist das Event, das Ereignis, bei dem man dabei ist oder nicht, Ende. In Woodstock gewesen zu sein ist was anderes, als den Film gesehen zu haben.

Qualitatives Wachstum wird wertvoller. Es ist die Aura, von der Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit spricht. Qualitatives Wachstum ist nicht so leicht sichtbar zu machen wie das rein materielle quantitative Wachstum (und wir lassen hier mal die Kirche im Dorf, das heißt das Spirituelle außen vor). Aber es ist dennoch kenntlich. Etwa, wenn Leute, die viel Geld haben, demonstrativ nichts tun oder nichts, was sie tun müssten. Als der damalige Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, Ferdinand Piëch, einem Wirtschaftsmagazin Audienz gewährte, lud er auf einen Bauernhof ein, wo er Holz hackte. Ich kann mir das leisten. Ich muss nicht im Büro sitzen. Seht mal her.

Von Kalifornien lernen heißt verstehen lernen.

Die Superreichen des Silicon Valley machen seit je einen auf Askese. Dort sehen wir, dass demonstrativer Verzicht natürlich auch demonstrativer Konsum ist, wenngleich eben in ethischer Hinsicht. Was nützen einem die Milliarden, wenn man nicht zeigen kann, dass man sie eigentlich nicht nötig hat? Das ist keine Polemik. Aber vergessen wir nicht, dass alles, was auch unsere Eliten am qualitativen Wachstums interessiert – und das ganz zu Recht, denn es ist die Ablöse des industriellen Quantitätswahns – letztlich auf einer sehr materiellen Grundlage steht, also wieder auf Quantität. Es gibt keinen Systemwechsel, keine Metamorphose oder Transformation, wie wir noch sehen werden, sondern nur eine friedlichere Koexistenz zwischen den Welten des alten und des neuen Wachstums. Aber das Junge kann ohne die Eltern nicht überleben, und das bleibt noch lange so.

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Überhaupt kann man den Wandel des Wachstums nicht verstehen, wenn man nur auf die kurze Phase der westlichen Wohlständigkeit schaut, die bedauerlicherweise bei allem Pro und Kontra zum Thema die entscheidende Rolle spielt. Vor Kurzsichtigkeit in historischen Fragen warnte Joseph Schumpeter immer. Sinngemäß meinte er, der Ärger mit dem Kapitalismus rühre daher, dass seine Verdienste so furchtbar langsam eintreten würden, während man von einem Tag auf den anderen arbeitslos werden kann.

Beim Wachstum ist es ähnlich.

Das kollektive Gedächtnis kann sich nicht gut genug an die lange Jahrzehntausende der Knappheit erinnern, in dem es entstand. Bis vor wenigen Generationen hatten die meisten nichts. Das war die Regel. Diese Regel schuf Kulturen und Weltbilder, verfestigte sie unmerklich. Religionen bauten darauf auf, ganz besonders das Christentum. Wachstum ist aber kein Selbstzweck. Es dient der gesellschaftlichen und persönlichen Emanzipation.

Tatsächlich können wir mit Überflüssen kulturell nicht umgehen. Die Zeitspanne, in der wir über sie verfügten, ist zu kurz, die der Knappheit zu gewaltig. Wir versuchen also, eine neue Dimension der Existenz, die Vielfalt, mit Denkwerkzeugen zu verstehen, die fürs genaue Gegenteil, die Knappheit, entwickelt wurden. Das funktioniert nicht.

Wir haben eigentlich keinen blassen Schimmer, mit welchen Denkwerkzeugen wir der Frage begegnen sollen, wie wir einerseits soziale und damit materielle Teilhabe ermöglichen und gleichzeitig eine Kultur der Qualität einführen sollen. Deshalb rufen so viele »Halt«, »zurück« und »weniger!« oder »das klären wir später«.

Wenn man nicht durchblickt, sieht man nicht weit, muss auf Sicht fahren, und die ist, vorsichtig gesagt, beschränkt. Sind Beschränkte gute Piloten, wenn es um die Transformation geht?

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Wer die natürliche Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, also Natur, beschwört, der darf kurz mal vor das Neolithikum zurückblenden, also in die Welt der Jäger und Sammler. Da war viel Natur. In dieser Natur wurden die Leute rund 30 Jahre alt, wenn sie die Kindheit überlebten. Dann der Eingriff in die Natur, die Sesshaftwerdung, vor rund 10.000 Jahren. Ackerbau, Viehzucht. Erst mal bissen viele ins Gras, denn die Tiere übertrugen bislang unbekannte Krankheiten auf die Menschen, die sie domestizierten. Beispielsweise sind die Masern eine Folge der Rinderpest.

Mit der Sesshaftwerdung begannen auch die Konflikte, die es zwischen den Jäger- und Sammlergruppen immer gab, zu Kriegen zu werden. Logisch: Wo man einem Konflikt nicht einfach durch mehr Mobilität ausweichen kann, sondern alles verliert, wenn man nachgibt, verteidigt man brutaler, und die, die angreifen, haben mehr zu gewinnen, je härter sie zuschlagen. Was zu gewinnen ist, sind Vorräte, Profite also, die man der Natur entzieht. Der Surplus liegt schon in den ersten Getreidespeichern.

Doch damals wird die Kultur, der Gedanke, die Idee einer Wirtschaft entwickelt, die wir immer noch in den Köpfen tragen, und die eines der größten Transformationshindernisse auf dem Weg zu qualitativem Wachstum ist: Es ist der Beginn der gemächlichen Hauswirtschaft, des Oikos, der stationären Wirtschaft. Das ist vielen das romantische Nullwachstumsideal der Gegenwart. Steady State.

Keine Bewegung.

Steady Stateheißt, dass es sehr wenig Wachstum gibt, wenn überhaupt. Bis ungefähr ins 18. Jahrhundert zeigen die langfristigen Wachstumskurven etwa 0,1 Prozent. Ist das gesund? Wenn man zu den Machthabern gehört, auf jeden Fall. Sie sind es, die von der niedrigen Wachstumsrate profitieren. Im Oikos wird eine begrenzte Ressource durch eine autoritäre Figur, den Haushaltsvorstand, aufgeteilt, nach seinem Gutdünken. Das zugrunde liegende politische, wirtschaftliche und kulturelle Modell, das seit der Antike auch die Vorstellung von Richtig und Falsch prägt, ist der Haustyrann, der auf dem Gutshof herrscht. Er weiß, was für andere ausreichend ist und was nicht. Steady State ist das Betriebssystem der Autoritären und Tyrannen.

Das ist kein Ideal.

Das ist Mithilfe zur Unterdrückung.

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Dort, wo heute Deutschland ist, wächst die Wirtschaft zwischen 1870 und 1898 um jährlich zwei Prozent, nicht mehr nur um 0,1 Prozent.

Im Zeitalter der fürsorglichen Haustyrannen des Oikos verfügte ein Mensch, der im Jahr 1000 nach Christi Geburt in Asien lebte, über ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 450 US-Dollar (in der Kaufkraft des Jahres 2000), in Afrika von 416 Dollar, in Westeuropa von 400 Dollar.

Im Jahr 2000, zu den Milleniumsfeiern, hat die OECD eine Analyse der Entwicklung der ersten zwei industriekapitalistischen Jahrhunderte vorgenommen: Westeuropäer verfügten im Jahr 2000 über das 44-fache materielle Vermögen ihrer Vorfahren im Jahr 1800. Sie wurden fast dreimal so alt. Qualitatives Wachstum sorgt für Möglichkeiten, für eine höhere Lebensqualität. Die macht dann Sinn, wenn man die Verwendung roher Gewalt und von immer mehr Rohstoffen durch klügere, bessere Methoden ersetzt. Qualitatives Wachstum ermöglicht es uns, genauer und vielfältiger nachzudenken, wie man's besser macht. (Worauf bezieht sich das, auf Lebensqualität?) Die französischen Aufklärer – allen voran Denis Diderot – hatten Recht behalten mit ihrer Vision von einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die sich durch Spezialisierung (und Automation) materiell weiterentwickelte. Die damit verbundene Entfremdung hat zwei Seiten, eine, die den Menschen vom (nachvollziehbaren) Ergebnis seiner Arbeit wegrückt, ja, aber eben auch jene Entfremdung, die suggeriert, dass die alte, vergessene, so unterschätzte Welt der vorökonomischen Zeit für die allermeisten Menschen nichts anderes gewesen war als Thomas Hobbes Zuschreibung eines »kurzen, schmutzigen und brutalen Lebens«.

Das heißt: Man kann ohne Wachstum nicht transformieren. Die Statik der autoritären Verhältnisse in der Nullwachstumswelt vor der Industrialisierung zeigt das deutlich. Jahrzehntausende wechselten sich die Unterdrücker ab. Erst durch mehr materielle Möglichkeiten wuchs auch die Chance auf mehr demokratische Verhältnisse.

Man kann ohne materielles Wachstum nicht nur keine Transformation machen, also eine evolutionäre, gründliche, auf lange Sicht und nachhaltig geplante Änderung der Verhältnisse, es reicht noch nicht einmal für einen Wutausbruch, also eine Revolution.

Und wie ist das jetzt mit der Qualität?

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: Wachstum in der Transformation, Teil 2.

WOLF LOTTER ist Autor zum Thema Transformation, Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins und dessen langjähriger Leitessayist. Soeben erschienen: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber 2022 – 280 Seiten, 20 Euro

Dieser Beitrag ist im März 2022 in taz FUTURZWEI N°20 erschienen.

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