GASTKOMMENTAR: Los Angeles, Ende des Multikulturalismus?
■ Europa sollte sich seinen neuen Jahrhundertfragen widmen
Die Ausschreitungen, die Toten und die Plünderungen in den USA, passen in die gegenwärtige deutsche Diskussion wie die Faust aufs Auge. In einer Zeit, da die SPD in der Asylfrage langsam, aber deutlich umfällt; in der sich auch unter den Grünen vorauseilender Gehorsam gegenüber ausländerfeindlichen Stimmungen breitmacht und die akademischen Matadoren der Republikaner im Fernsehen bewährte Emanzipationskämpferinnen wie Schwarzer und Mitscherlich locker auspunkten, scheint „Los Angeles“ allen Skeptikern gegenüber einer offensiveren Einwanderungspolitik recht zu geben. So manche sich bisher fortschrittlich wähnenden Zeitgenossen und -genossinnen werden „nach Los Angeles“ für sich entdecken, daß wohl nicht alles, was von Schäuble, Steuber und Schönhuber kam, so falsch ist.
Aber was lehrt „Los Angeles“ wirklich? Was lehren die Wut und die Kränkung der verarmten Schwarzen in den Slums der amerikanischen Großstädte? Für welche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen ist „Los Angeles“ ein Symptom? Die USA, also jener sich über einen ganzen Kontinent erstreckende Staat, der allemal so föderalistisch ist wie die Bundesrepublik, kennen — anders als die meisten westeuropäischen Staaten — keine tiefsitzende sozialstaatliche Tradition. Daran ändern auch die Jahre des „New Deal“ unter Roosevelt und später Johnsons Ideen von einer „Great Society“ nichts. Der tiefsitzende Glaube, daß jeder seines und seiner Familie Glückes Schmied sei, daß die Aufgabe des Staates vor allem darin bestehe, daß „Verfolgen individuellen Glücks“ im Rahmen strikt eingehaltener rechtlicher Gleichheit zu garantieren, ließ die USA im Unterschied zum überwiegenden Teil Westeuropas keine sozialdemokratische, sondern eine strikt liberalistisch-kapitalistische Entwicklung einschlagen.
Darüber hinaus — oder vielleicht auch deswegen — ist diese Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft: Von den Pilgervätern der Mayflower bis zu jenen jetzt Illegalen, die aus Mexiko tagtäglich den Rio Grande überqueren. Sie alle sind in dieses Land eingewandert, um frei von politischen, sozialen oder religiösen Bedrängnissen den individuellen Aufstieg für sich und ihre Familie zu erkämpfen sowie Gewissensfreiheit und eigensinnige Lebensformen zu genießen.
Die einzige Gruppe in dieser Gesellschaft, die nicht aus diesen oder ähnlichen Gründen ins Land kam, sind die Schwarzen. Sie wurden als einzige Gruppe gegen ihren Willen in die Einwanderungsgesellschaft — zunächst auf die Plantagen des Südens — verschleppt. Sie haben trotz der mehr als hundert Jahre zurückliegenden formellen Sklavenbefreiung das Trauma von Verschleppung, Versklavung, fortdauernder Entwürdigung und Diskriminierung, die allemal auch in einer ökonomischen Schlechterstellung resultierte, als Gruppe und im Ganzen nicht überwunden. Daß ein großer Teil der Schwarzen inzwischen der Mittelklasse angehört, widerspricht dem nicht. Vielmehr beweisen gerade der tendenzielle Rassismus und Antisemitismus von Teilen des höher gebildeten schwarzen Mittelstandes, wie sehr die jahrhundertelange Mißachtung nachwirkt.
Strikt liberalistische Gesellschaften wie die USA zahlen dafür, daß die Individuen wegen mangelnder sozialer Sicherheit an ihre Herkunftsgruppen gebannt sind, den Preis des strukturellen Rassismus. Wo nämlich jedes Individuum im Prinzip auf Hilfe und Unterstützung durch seine Ethnie, Glaubens- oder Gesinnungsgemeinschaft angewiesen ist, Einkommen, Bildung und Prestige dennoch nicht beliebig vermehrbar sind, werden gerade diese Herkunftsgruppen eifersüchtig über ihren angemessenen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum wachen. Wo keine Sozialpolitik gesellschaftliche Ungleichheit abfedert, tritt an ihre Stelle die Rechtspolitik. Mittels eines Quotensystems auf der Basis von eingeklagten „equal rights“ versuchen schwächere Ethnien, ihre Zukunftschancen zu sichern, während bereits arriviertere Gruppen sich dazu teilweise skeptisch bis abweisend verhalten. Die Konkurrenz der Ethnien vor dem Hintergrund eines sozialstaatlich nicht modifizierten Kapitalismus, dem von der Reagan-Administration noch die letzten vorhandenen steuerlichen Verteilungsmechanismen genommen wurden, verstärken den inter-ethnischen Gruppenkonflikt weiter.
Es ist nicht die Einwanderung, sondern die traumatisch nachwirkende Geschichte der Schwarzen, und der fortwährende Rassismus der weißen Justiz und Polizei; es ist nicht der zu große Individualismus dieser Gesellschaft, sondern schlicht der Mangel an sozialstaatlichen Strukturen, der derlei Konflikte immer wieder hervortreibt. Erst in einer Gesellschaft, in der ein Minimum sozialer Sicherheit für alle und dann ein faires Leistungsprinzip die Individuen vom Bann ihrer Herkunftsgruppe erlöst, dürfte auch der Rassismus weitestgehend eingeschränkt werden.
Die USA stehen demnächst vor der für einen großen Teil ihrer Bevölkerung schmerzlichen Entscheidung, langjährige liberalistische Strukturen zugunsten der Ansätze eines Sozialstaates umzubauen. Dabei dürften gutgemeinte Ratschläge aus Europa, wo sich soziale Sicherheit keineswegs immer mit Freiheit vertragen hat, kaum dienlich sein. Anstatt also botmäßig und vom Zeitgeist übermannt, „Los Angeles“ als Argument für einen weiteren Schritt nach rechts hinzunehmen, sollten sich kritische Geister hierzulande mit aller Kraft der neuen Jahrhundertaufgabe, der Aufgabe des 21. Jahrhunderts widmen. Nämlich der Beantwortung der Frage, wie Demokratie, unvermeidlich steigende Einwanderung und freiheitsverbürgende sozialstaatliche Sicherungssysteme in ein neues, tragfähiges Verhältnis gesetzt werden können. Micha Brumlik
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