■ London unter dem „Blitz“ im Museum: Der Geschmack des Krieges
London (taz) – Dem jungen Mann in der britischen Luftwaffenuniform bereitet es jedesmal aufs neue diebische Freude, wenn die Leute unter dem Getöse einer einschlagenden Bombe schreckhaft zusammenzucken. Kaum ist es vorbei, da deuten sich schon wieder lautstark Flieger in der Dunkelheit an. Sirenen heulen. Kinder schreien. Rauchschwaden beißen in Nase und Augen. Der Horror wird wieder lebendig: London unter dem Blitzangriff der Deutschen im 2. Weltkrieg. Nur daß dieses Mal einiges anders ist: Die Häuserfassaden sind aus Pappmaché, die Opfer lebensgroße Puppen, der Rauch kommt aus Patronen, der Lärm der Flieger und Bomben vom Band. Echt sind nur der uniformierte Museumswärter und die BesucherInnen, die dieses Schreckensszenario heute – im Gegensatz zu damals – freiwillig erleben.
Der Londoner „Blitz“ – hörbar, riechbar, fühlbar, so verheißen es unzählige Werbeplakate seit einigen Wochen in der ganzen Stadt. „Die vollen Grausamkeiten des Londoner Blitzes mit verblüffend realistischen Effekten“, versprechen sie in dem zweiten Londoner Kriegsmuseum, das seit kurzem dem „Imperial War Museum“ Konkurrenz in der Hauptstadt macht. über 5.000 Neugierige ließen sich allein in der ersten Woche nach Öffnung des Museums mit dem Titel „Winston Churchills Britannien im Krieg“ davon anlocken. Eine Zahl, die für Initiator und Direktor Don Robinson belegt, daß er mit seiner Idee den Nerv der Leute getroffen hat. „Einen unvergeßlichen Geschmack vom Krieg an der Heimatfront“ will er ihnen mit nach Hause geben. Hunderte MithelferInnen haben landesweit in ihren Kellern gekramt, um ihren Teil dazu beizusteuern: sei es ein Kleid, eine Gasmaske, eine Klopapierrolle, die sie noch aus dem 2. Weltkrieg gehortet haben. Um den Geschmack auch tatsächlich unvergeßlich zu machen, greift Robinson zu einem einfachen Rezept: Action. Und das von der ersten Sekunde an. In einem nachgebauten Aufzug, der jeden Moment steckenzubleiben droht, fahren die „Zeitreisenden“ durchgeschüttelt und unter ohrenbetäubendem Lärm in der Szenerie eines rekonstruierten U-Bahn-Schachts ein, in dem ZivilistInnen bei Fliegeralarm Schutz suchten. Plötzlich eine laute Explosion. „Das ist eine V2“, erklärt eine ältere Frau ihren Enkeln. Sie hat den „Blitz“ damals in Süd-Ost-London überlebt. „Das hier ist typisch. Genauso war es – verblüffend“, meint sie sichtlich beeindruckt.
Die Frage drängt sich auf, ob da nicht das Nahebringen von grausamer Geschichte mit billigem Geisterbahn-Kommerz verwechselt wird? Die BesucherInnen an diesem Tag denken anders. „Das ist wirklich realistisch. So etwas sollte es öfter geben – zur Abschreckung für unsere Kinder“, meint ein Großvater, der seine Enkelin mitgebracht hat. Die hingegen hofft, „daß die Deutschen so etwas nicht noch mal machen“. Und ein anderer Mann, der kam, um „viel Krach, viel Bang und ein wenig Horror“ zu erleben, ist auch zufrieden. „Wunderbar!“ schwärmt er. Mit Kriegsnostalgie, so Direktor Robinson vehement, habe sein Museum ganz und gar nichts zu tun. „Ich denke, es ist doch Teil unserer Geschichte. Wir sollten sie bewahren und zurückschauen. Das lehrt die Leute, zusammenzukommen und freundlicher zueinander zu sein. So verhindert man doch nur weitere Kriege.“
In diesem Sinne sind Robinsons Aktivität hoffentlich keine Grenzen gesetzt. Als nächstes würde er gern den Zweiten Weltkrieg aus Sicht der deutschen Bevölkerung erfahrbar machen. Die Verhandlungen über ein geeignetes Gebäude am ehemaligen Checkpoint Charlie laufen bereits. Antje Passenheim
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