Locarno: Schöne Schnitte im Tessin
Am Wochenende ist das Filmfest von Locarno zu Ende gegangen. Es ging populärer zu als sonst. Trotzdem bekam der radikalste Film den Hauptpreis.
R outine gibt Halt, kann aber auch zur Erstarrung führen. Manchmal hilft dann ein heftiger Schubser, ein unerwarteter Impuls, und plötzlich eröffnen sich Möglichkeiten und neuer Handlungsspielraum. Routine gibt Halt. Zumal, wenn ein dramatisches Ereignis zuvor aus geordneten Lebensbahnen geworfen hat: Eine Frau steht einer Stimme aus dem Off Rede und Antwort. Ihre Tochter hat eine Mitschülerin getötet. Der Vater dieses Mädchens, ein Witwer, weigert sich, eine Entschuldigung der Mutter der Mörderin anzunehmen.
Der japanische Regisseur Masahiro Kobayashi baut daraus in seinem Film "Ai no yokan" - was so viel meint wie den "Vorschein von Liebe" - einen Prolog für eine intensive Verhaltensstudie. Ein Jahr später, in einer kleinen Ortschaft auf Hokkaido, arbeitet der Mann in einer Gießerei, die Frau in der Küche seiner Pension. Beide verbringen ihre Tage gewissermaßen in selbst auferlegter Einzelhaft.
Der Film erzählt dies weniger, als dass er es in nahezu dokumentarischen Sequenzen anschaulich macht. Er entwirft ein Spiel aus Wiederholungen und Abweichungen, dem Ein- und Abschleifen von Bewegungen, Wegen, Handlungen: Ein Ei wird aufgeschlagen, mit Stäbchen verrührt, in eine Pfanne geleert - einmal, zweimal, fünfmal. Eine Tür öffnet sich, Männer betreten eine Werkhalle und greifen im Gehen nach den Schutzhandschuhen, die rechts von ihnen lagern. Wieder und wieder und wieder. Und mitten im Immergleichen gibt es langsam den Schimmer einer Veränderung.
"Ai no yokan" wurde am Samstagabend verdientermaßen mit dem Goldenen Leoparden, dem Hauptpreis des 60. Internationalen Filmfestivals von Locarno, ausgezeichnet. Zwischen sympathischen Debüts wie Ulrike von Ribbecks luftigem Mädchendrama "Früher oder später", eindimensionalen Pseudopolitvideoclips wie Jim Threapletons "Extraordinary Rendition" oder Genrevariationen wie George Ratliffs Psychothriller "Joshua" war "Ai no yokan" gerade in seiner Reduziertheit in diesem Jahr wohl die radikalste Arbeit im Wettbewerb.
In deutlichem Kontrast zu Kobayashis Ansatz stand etwa jenes Schauspiel, dem man in Hiner Saleems "Sous les toits de Paris" begegnete. Der französische Schauspieler Michel Piccoli, der im Dezember 82 Jahre alt wird, wurde in Locarno mit einem Excellence Award ausgezeichnet und erhielt außerdem einen Preis als bester Darsteller. In Saleems Film spielt er einen alten Mann, der im zugigen Dachgeschoss eines alten Mietshauses wohnt, mit Gangtoilette und ohne Bad, aber dafür mit einem treuen Freund an seiner Seite, der ihn immer montags zur Körperpflege ins benachbarte Hallenbad begleitet. Als der Freund (Maurice Bénichou) in seine Heimat remigriert, eine Lebenskonstante wegfällt, beginnt ein langsamer Verfallsprozess.
Piccoli macht seine Arbeit hervorragend, der spracharme Film ist ganz auf seine physische Performance zugeschnitten. Piccoli bewegt sich langsam, beschwerlich, zuletzt auf allen vieren. Er gibt Laute des Wohlbefindens und des Unmuts von sich. Er breitet selig die Arme aus, wie um abzuheben. Er wagt ein kleines Tänzchen und knickt dabei fast ein. Und doch haftet "Sous les toits de Paris" hartnäckig etwas vom Charakter einer Leistungsschau an: Man sieht einem Menschendarsteller bei der Arbeit zu, und das ist letztlich interessanter als die Figur, die er verkörpert, oder deren Geschichte.
Die 60. Ausgabe des Festivals in Locarno war zugleich auch die zweite unter der Leitung von Frédéric Maire. Innerhalb der schwerfälligen Routinen einer solchen Großveranstaltung war noch nicht wirklich abzuschätzen, worin sich nun genau die Impulse der neuen Direktion widerspiegeln. Immerhin konnte man in allen Sektionen wieder mehr Arbeiten sehen, die sich über eigenwillige formale Herangehensweisen definierten. So Benedek Fliegaufs "Tejút", eine ungarisch-deutsche Koproduktion, die den Hauptpreis in der Reihe "Filmemacher der Gegenwart" entgegennehmen konnte: eine Abfolge von szenischen Tableaus, in denen sich im Zusammenspiel von Orten und wortkargen Figuren absurde, peinliche, melancholische oder komische Situationen ergeben.
Was sich ebenfalls abzeichnete, war die Umgestaltung der abendlichen Piazza-Grande-Vorführungen zum Hollywood-lastigen Sommerkino - mit Vorpremieren von "The Bourne Ultimatum", "Planet Terror", "Hairspray" und anderen demnächst startenden Großproduktionen. Und auch die Retrospektive - sonst oft das cinephile Herzstück des Festivals und in diesem Jahr den bekanntesten italienischen Schauspielerinnen aus sechs Jahrzehnten mit ihren offensichtlichsten Arbeiten gewidmet - scheint in Richtung Rahmenprogramm zu driften.
Die Bewohner der Ferienapartments, die hier zunehmend die Hotellerie ablösen, wollen schließlich auch unterhalten sein. Hollywoodstars kamen trotzdem keine. Dafür versucht man deutlicher als früher auch den Gästen aus dem Rest der Welt ins Bewusstsein zu rufen, dass es sich beim Internationalen Filmfestival im Tessin auch um das größte Schweizer Filmfestival handelt. Pünktlich zu Beginn konnte man eine Erhöhung der Bundessubvention um 150.000 Franken auf 1,35 Millionen vermelden (insgesamt hält das Festivalbudget bei rund 10,3 Millionen). Zum zweiten Mal wurde ein Tag des Schweizer Films ausgerufen. Auch damit lassen sich Routinen irritieren - und wenn es sich primär dadurch bemerkbar macht, dass einmal statt einem gelb gefärbten ein roter Leopard vor Filmbeginn über die Leinwand streift.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!