Literaturnobelpreisträger Oe über Fukushima: "Hier gibt es keine Helden"
Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe über die Katastrophe von Fukushima, den Bombenabwurf von Hiroshima und die breite Akzeptanz der Japaner für Atomenergie und -waffen.
taz: Herr Oe, in den Nachrichten wird vor radioaktiv belastetem Leitungswasser in Tokio gewarnt. Welche Auswirkungen hat die Reaktorkatastrophe auf Ihr persönliches Leben?
Kenzaburo Oe: Die Warnung vor radioaktiv verunreinigtem Leitungswasser in Tokio, die eigentlich nur Säuglinge und Kleinkinder betraf, hat eine kleine Panik verursacht. Auch ich stehe jetzt jeden Morgen vor dem Supermarkt in Tokio Schlange, um meine rationierte 1,5-Liter-Trinkwasserflasche zu kaufen. Vor 40 Jahren habe ich eine Reportage über den Betrieb von Atomkraftwerken geschrieben, und jetzt sitze ich von morgens bis abends vorm Fernseher und verfolge die Nachrichten.
Wie nehmen Sie zurzeit Japan und die Menschen in Ihrer Umgebung wahr?
Ich bin beeindruckt, wie ruhig und besonnen die Opfer der Tsunami-Katastrophe reagieren. Auch im Fernsehen wird deutlich, was für eine Geduld diese Menschen besitzen, eine Charakterstärke, die man allgemein den Bewohnern im Nordosten der Hauptinsel Honshu nachsagt. Seit bekannt wurde, dass landwirtschaftliche Produkte und Milch radioaktiv verstrahlt sind, müssen Bauern ihre Produkte vernichten.
Sie haben zeit Ihres Lebens vor der Gefahr durch Atomwaffen und Atomkraft gewarnt, weil Sie als Kind den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki erlebt haben. Damit standen Sie ziemlich allein da in Japan. Fühlen Sie sich jetzt in Ihrem Denken bestätigt?
Ich fand es angesichts der weltweiten Verbreitung von Atomwaffen beachtlich, dass letztes Jahr zum ersten Mal bedeutende Politiker aus Amerika und Europa am 6. August an der Gedenkfeier zum Atombombenabwurf in Hiroshima teilnahmen und gemeinsam auf die Gefahr der atomaren Abschreckung hingewiesen haben.
Allerdings betonte unsere Regierung erneut die Wichtigkeit eines atomaren Schutzschirms. Sie ist von der Macht und Effektivität der atomaren Abschreckung überzeugt, vertraut auf das Militärbündnis mit den USA und glaubt andererseits fest daran, dass Atomkraft die größte und beste Energiequelle ist. Diese beiden Faktoren sind, was die Entscheidung für die Zukunft Japans betrifft, unweigerlich miteinander verknüpft. Ich hoffe sehr, dass die schrecklichen Ereignisse in Fukushima ein nationales Nein zur Atompolitik auslösen.
KENZABURO OE 76, erlebte als 10-Jähriger den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki. Neben seinem Schreiben ("Der Fang", "Eine persönliche Erfahrung", "Hiroshima-Notizen", "Tagame. "Berlin-Tokyo") ist Oe in der Antiatom- und Friedensbewegung aktiv. Sein behinderter Sohn Hikari spielt in seiner Literatur und in seinem Leben eine große Rolle. 1994 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Sie haben in Ihrem Buch "Hiroshima-Notizen" die Atombombe als Symbol des Bösen bezeichnet, demgegenüber sich gleich darauf das Gute regte: das Handeln, der Wiederaufbau. Worin könnte jetzt das Gute bestehen?
Als Antwort darauf möchte ich aus dem Aufsatz eines befreundeten Journalisten zitieren, der lange in Hiroshima über die Lage der Atombombenopfer berichtet hat. Leider ist er schon tot, sein Aufsatz stellt eine Art Vermächtnis dar. Er fragt darin: "Hat sich Hiroshima in unserer Erinnerung als ein großes menschliches Desaster eingeschrieben oder als erste große Folge der atomaren Abschreckung?"
Die gleiche Frage möchte ich jetzt angesichts der Krise in Fukushima stellen: Galt das Interesse der Japaner trotz ihrer Erfahrung von Hiroshima in den 66 Jahren danach nicht weniger dem großen menschlichen Desaster als vielmehr der Weiterentwicklung von Atomwaffen – und zwar amerikanischer Atomwaffen, weil sie der Meinung sind, durch den atomaren Schutzschirm der USA den Frieden bewahren zu können? Hat nicht die auf Wissenschaftsgläubigkeit und Wissenschaftstechniken beruhende Kernenergie mit ihrer enormen Macht das Florieren der japanischen Industrie gewährleistet?
Beide, der Glaube an Atomwaffen und der Glaube an atomare Energie, bedingen sich gegenseitig. Und führt uns die jetzige Katastrophe nicht vor Augen, dass die Japaner mit ihrem Interesse für atomare Energie die Atombombenopfer von Hiroshima verraten haben? Auf dem Kenotaph im Friedenspark von Hiroshima steht der Schwur: "Ruhet in Frieden. Wir werden diesen Fehler nicht noch einmal begehen."
Wird es denn einen Bruch, einen Neuanfang nach Fukushima geben?
In meinem Buch "Hiroshima-Notizen" habe ich geschrieben, dass die humanen Anstrengungen der Atombombenopfer, die ebenfalls verstrahlten Ärzte eingeschlossen, zum Wiederaufbau und die dadurch entstandene neue Würde die Japaner nach Hiroshima mit Stolz erfüllten. Ich spreche hier von Stolz, nicht vom Guten. Auch jetzt treten diese positiven humanen Anstrengungen deutlich zutage. Überzeugt davon, dass die Japaner diese Tragödie überwinden werden und ihnen der Wiederaufbau gelingen wird, will ich das Meine dazu beitragen. Dabei sollte es nationaler Konsens sein, dass nicht die Entwicklung der Atomenergie, sondern das durch die Zerstörung des Atomkraftwerks verursachte humane Desaster die Grundlage für den Wiederaufbau und die Zukunft Japans sein muss. Das heißt zugleich, dass Japan eine Entscheidung treffen muss: sich vom Glauben an die atomare Abschreckung zu lösen.
Wie können die Japaner, die mit dem Trauma von Hiroshima und Nagasaki aufgewachsen sind, an die friedliche Nutzung der Atomenergie glauben?
Wenn die Japaner an die friedliche Nutzung der Atomkraft glauben können – immerhin haben sie bis zum Platzen der Wirtschaftsblase auch nicht an ihrem wirtschaftlichen Erfolg gezweifelt –, heißt das, dass sie nicht die menschliche Tragödie in Hiroshima und Nagasaki für wichtig erachten, sondern die friedliche Nutzung der Atomenergie.
Hat der Glaube an die eigene technologische Überlegenheit mit diesem Trauma zu tun?
Ich bezweifle, dass Japan an seine technologische Überlegenheit glaubt. Aber falls die Japaner glauben sollten, dass ihnen die technologische Überlegenheit – bis zum Zerplatzen der Bubble Economy – einen ökonomischen Vorsprung in der Welt ermöglicht hat, so muss dieser Glaube von Grund auf in Frage gestellt werden.
Fühlen Sie sich in der gegenwärtigen Situation von der japanischen Regierung und von den Kernkraftwerksbetreibern ausreichend informiert?
In den japanischen Medien wurde berichtet, dass die Liquidatoren in Fukushima der Radioaktivität ausgesetzt worden wären, ohne genügend informiert worden zu sein. Wenn das stimmt, können wir Normaljapaner nicht mehr davon ausgehen, ausreichend informiert zu werden.
Nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima haben Ärzte den Verletzten vor Ort geholfen und damit ihr Leben riskiert. Empfinden Sie den Einsatz der Liquidatoren in Fukushima ähnlich heldenhaft?
Ich habe in den "Hiroshima-Notizen" nie das Wort "heldenhaft" benutzt. Die Ärzte und die Atombombenopfer haben Großartiges nicht heldenhaft, sondern äußerst human geleistet. Ich hoffe, dass auch die Menschen, die in den Atomkraftwerken Nothilfemaßnahmen leisten, humane Arbeit leisten können. Ich lehne jegliche Tendenzen, diese Menschen zu Heldentaten anzutreiben, ab. Bei einem Atomdesaster, dem alle Nationen zum Opfer fallen können, sind Heldentaten unmöglich.
In Deutschland wurden nach dem japanischen Reaktorunglück von der sonst atomstromfreundlichen Regierung sieben alte Kernkraftwerke vorerst abgeschaltet. Muss auch Japan seine Kernkraftwerke vom Netz nehmen?
Ich hoffe, dass die japanische Regierung von der schnellen Entscheidung Deutschlands lernt.
Sie schreiben momentan an Ihrem letzten Roman, sagen Sie. Es geht darin um ein menschliches Inferno. Verschlägt Ihnen das Inferno in Nordjapan jetzt nicht die Sprache?
Gleich auf der ersten Seite zitiere ich die letzte Zeile aus Dantes "Inferno": "Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne." In diesem Roman beschreibe ich die gegenwärtige Situation in Japan aus der Innensicht eines alten Schriftstellers. Während ich daran schrieb, hat im Atomkraftwerk von Fukushima ein Ereignis stattgefunden, das die in mehrfachem Sinne schwierige Situation dieses Landes plötzlich offen zutage förderte.
Die radioaktive Wolke wird sich über ganz Japan ausbreiten, und mein Roman wird wohl die letzte schwierige Etappe in meinem Leben als Schriftsteller sein. Mein Roman soll aber enden mit der Zeile: "Lasst uns die Sterne betrachten." Was bedeutet, einen Schritt aus der Hölle zu tun. Momentan sehe ich allerdings den ganzen Tag die Fernsehsendungen zur Atomkatastrophe.
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