Literatur und Selbstfindungsmodelle: Wer ist Mae Holland?
„Wir“ werden manipuliert. „Unsere“ kognitiven Fähigkeiten verkümmern. Die Algorithmen lesen „uns“: Über eine vieldiskutierte Romanfigur.
Mae Holland ist eine junge Frau aus kleineren Verhältnissen und ehrgeizig. Sie verschuldet sich für ein Studium und lernt Menschen aus den besseren Kreisen kennen, zu denen sie freundschaftliche Beziehungen, aber auch die Minderwertigkeitskomplexe des Aufsteigers hegt. Ein erster Job bei den städtischen Strom- und Gaswerken befriedigt sie nicht, sie wollte mehr aus sich machen.
Durch Glück und Beziehungen bekommt sie die Möglichkeit, zu einer weltweit führenden kalifornischen Internetfirma zu wechseln. Sie ist so glücklich, dass sie gar nicht merkt, dass ihre ganze Persönlichkeit allmählich hineingesogen wird in die gefräßige Scheinidentität des Firmenkollektivs.
Immer noch ein Bildschirm mehr wird ihr auf den Schreibtisch gestellt, immer weiter wird ihre Arbeit verdichtet, bis sie nur noch eine flexible, transparente Verfügungsmasse in den Händen ihres so skrupellosen wie von sich überzeugten Oberbosses ist.
Mae Holland ist die Hauptfigur aus Dave Eggers’ vieldiskutiertem Internetkonzern-Roman „Der Circle“, aber darum geht es hier nicht und auf die Details kommt es nicht so sehr an. Wichtig ist, dass Mae Holland ein Typus ist, ein Modell.
Ständig fotografieren wir alles und jeden. Den Eiffelturm am Abend, die Freundin in der Seilbahn, die Kinder in der Sandkiste. Und merken nicht, wie uns die Welt hinter all den Bildern abhanden kommt. Arno Franks Geschichte über einen Akt der Selbsterhaltung lesen Sie in der taz.am wochenende vom 16./17. August 2014. Außerdem: Wie der Kokainhandel in Amerika funktioniert. Und: Warum der Schriftsteller Ferdinand von Schirach die Ehe für mörderisch hält. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Sie ist so, wie man selbst eben gerade nicht ist – weil man die Dinge dann doch zu durchschauen meint – und auch nicht werden will. Vielmehr ist sie so, wie sich viele Gesellschaftskritiker ausmalen, wie die anderen Menschen sind oder werden könnten: die Menschen, die man wachrütteln möchte, weil sie ahnungslos in ihr Verderben hineinlaufen; die Menschen, die alles mitmachen und einen selbst dabei mit ins Unglück hineinziehen.
„Träumerin von außergewöhnlichen Träumen“
Nicht nur in Romanen und Filmen stößt man oft auf dieses Modell, sondern auch in gesellschaftlichen Debatten. Aus den Mae Hollands dieser Welt setzt sich das Wir zusammen, das in ihnen oft als gefährdete, aber zugleich auch als möglicherweise rettende Einheit gedacht wird. „Wir“ werden manipuliert. „Unsere“ kognitiven Fähigkeiten verkümmern. Die Algorithmen lesen „uns“. Aber „wir“ können auch etwas bewegen, wenn „wir“ uns aufrütteln lassen.
Dieses Modell macht es einem leicht, sich selbst aus der Analyse herauszuhalten. Man selbst durchschaut die Verhältnisse ja, indem man die Analyse ausspricht oder liest; es sind immer die anderen, die Mae Hollands, die das Problem ausmachen, weil sie zum Wir erst noch finden müssen.
Zugleich neigt das Modell dazu, simple und im Grunde hochmoralische Geschichten zu erzählen. Es ist ja ihr Ehrgeiz, der Mae Holland so verführbar macht. Sie ist, wie es bei Eggers heißt, eine „Träumerin von außergewöhnlichen und goldenen Träumen“. Hinter dem Typus Mae Holland steckt auch eine Bestrafungsfantasie. Wenn sie nicht so viel aus sich hätte machen wollen, wäre das alles nicht passiert.
Es gibt in der Populärkultur andere Modelle. Mit ihnen kann man ganz andere Geschichten aus dem weiten Feld von Emanzipation, Überforderung, Ausbeutung und Selbstoptimierung erzählen, das hier neben dem Internet den Hintergrund bildet, und es ist vielleicht ganz gut, an sie zu erinnern.
Gegenmodell Claudia Jean Cregg
Es gibt zum Beispiel C. J., Claudia Jean Cregg, die zunächst Pressechefin, dann Stabschefin des Präsidenten der Vereinigten Staaten ist in der großartigen Fernsehserie „West Wing“. Wie Mae Holland ist C. J. eingebunden in die tägliche Gehirnwäsche aus Stress, Kommunikationszwang und Überforderung. Es gibt aber zwei Punkte, die sie prinzipiell von Mae Holland unterscheiden. Erstens: Sie weiß von Anfang an, worauf sie sich mit ihrem Job einlässt. Und zweitens: Sie weiß auch, dass sie sich manchmal in ihren Überzeugungen verbiegen und in ihren press briefings an der Grenze zur Lüge agieren muss, aber im Kern muss sie doch überzeugt bleiben, dass es das Richtige ist, was sie tut.
Und dabei lässt sie sich auch mit keinen Floskeln abspeisen wie der, dass es darum gehe, „die Welt zu verbessern“, die im Silicon Valley offenbar den Standardspruch darstellt. Wie verbessern? Wozu? Mit kritischen Nachfragen kennt C. J. sich bestens aus.
Mit einer C. J. als Hauptfigur ließe sich, Hintergrundwissen vorausgesetzt, viel komplexer, dichter und wahrhaftiger aus dem Herzen einer führenden Internetfirma erzählen. Von der charismatischen Rede eines Chefs würde sie sich vielleicht auch einmal einseifen lassen, aber hinterher würde ihr das selbst auffallen. Niemals wäre sie mit einigen Psychotricks ein für alle Mal zu kriegen, die Firma müsste sich permanent anstrengen, sie bei der Stange zu halten.
Die Erzählung würde weniger eindeutig ausfallen als bei Mae Holland, aber um einiges realistischer und auch beunruhigender. Denn man täusche sich nicht. Mit naiven Mae Hollands kann man eine High-Tech-Internetfirma niemals auf Dauer führen. Dafür braucht man Menschen mit Brillanz, Überzeugung und Augenmaß, Menschen wie C. J. Mit ihr als Hauptfigur würde die Geschichte nicht so nahtlos ins Verhängnis rattern wie bei Mae Holland, aber man könnte sich als Leser oder Zuschauer auch nicht so leicht von ihr distanzieren – zumindest ein bisschen wie C. J. werden will man ja selbst. Man wäre also verstrickt.
Gegenmodell Lena Dunham
Der große Gewinn wäre dabei: Die Geschichte könnte dann mehr von den realen Ambivalenzen enthalten, die einen ja wirklich umtreiben. Zwischen Überwachungsangst, digitalen Alltagserleichterungen und diesem geilen, gleißenden Gefühl, wenn man mit einem noch flacheren Rechner oder einem noch vernetzteren Tablet sein Ego aufpimpen kann, einerseits. Und den Wünschen, aus sich etwas zu machen, und den Anforderungen, auf die man dabei stößt, andererseits. Statt einer Bestrafungsfantasie und Spekulationen über den Überwachungswahn der anderen beizuwohnen, könnte man dann tatsächlich etwas lernen, über sich.
Ein zweiter interessanter Typus als mögliche Hauptfigur wäre Lena Dunham, die Hauptdarstellerin, Autorin und Regisseurin der Fernsehserie „Girls“. Berühmt geworden ist sie damit, dass sie als junge Frau nicht meint, immer und überall perfekt sein müssen. Gegen Selbstoptimierungskrisen ist sie immun. Alle anderen Krisen macht sie aber voll mit. Selbstfindungskrise – here I come.
Mit der Dunham als Figur könnte man zeigen, um welche soziale Praxis es bei den digitalen Verheißungen geht. Bei „Girls“ wird gebloggt, gefacebookt und gesimst, was das Zeug hält. Und das alles ist eingebunden in die eine große Frage, die alle umtreibt und am meisten Lena Dunham. In die Frage: Wer bin ich? Gleich in der allerersten Folge macht Lena Dunham klar, was ihre große Arbeit sein wird: zu werden, was sie ist. Das Sprachrohr ihrer Generation nämlich.
Wie Mae Holland hat sie außergewöhnliche, goldene Träume – nur dass sie sich dabei von niemandem ein X für ein U vormachen lässt. Oder einen besseren Hotline- oder Moderatoren-Job (genau die macht Mae Holland schließlich) für die Erfüllung.
Gnadenlose Ökonomie der Aufmerksamkeit
Schriftstellerisch wäre es eine riesige Herausforderung, Lena Dunham und die Internetwelt aufeinanderprallen zu lassen. Man müsste als Autor all seine Subtilität, all seinen Witz und Erfindungsreichtum aufwenden. Aber es wäre lohnend. Den Chef möchte man sehen, der es mit Lena Dunham und ihrer frechen Schnauze aufnimmt. Einen Masterplan mag er ja haben, aber hat er dazu auch die nötige Geistesgegenwart? Und zugleich sieht man bei „Girls“ eben auch den Wettbewerb, in den wiederum die großen Internetfirmen stecken.
Es geht um Coolness und um eine gnadenlose Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wenn sie den Kontakt zu den Lena Dunhams dieser Welt verlieren, können die großen Firmen aus all ihren schicken Glaspalästen und runden Zentralen nämlich gleich wieder ausziehen. Und das wissen sie auch.
Wer also ist Mae Holland? Vorerst vielleicht nur ein Platzhalter für ein besseres Erzählmodell. Aber er lohnt sich, sich jetzt schon über sie Gedanken zu machen. „Circle“ sei der Roman der Stunde, wurde gesagt. Aber das stimmt eben nicht, weil Mae Holland nicht auf der Höhe der Zeit ist. Das Buch der Stunde wäre ein Roman, der ihre Geschichte richtig und mit allen Ambivalenzen erzählt. Wie sie ins Herz der digitalen Welt gerät, welche Menschen sie dort trifft und was sie dabei erlebt. Dieses Buch bleibt zu schreiben.
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