Literatur im Schulunterricht: Mehr Begeisterung, bitte!
Literatur-Lektüre weckt selten Euphorie. Warum ist das so? Und kann man das ändern? Anmerkungen zu den Ferien, wenn Lesen wieder selbstbestimmt ist.
E ine frustrierende Schullektüre: „‚Emilia Galotti‘ war das absolute Low. Das ist nicht lustig, es ist nicht klug, es ist nicht sprachlich spannend. Es ist, was man seinen Schülerinnen und Schülern gerade mal so zutraut.“ Das sagt Dana Vowinckel, die beim letztjährigen Bachmannwettbewerb den Deutschlandfunkpreis gewann.
Für die Schriftstellerin Shida Bazyar („Nachts ist es leise in Teheran“; „Drei Kameradinnen“) war es „Homo faber“ von Max Frisch: „Ich liebe Max Frisch, ich habe ihn auch zur Schulzeit geliebt, aber mit diesem Buch konnte ich trotzdem so rein gar nichts anfangen. Es war für mich nichts anderes als eine einzige uninteressante, verstaubte Männlichkeit und ich habe nicht eine Seite lang verstanden, warum ich das lesen soll.“
Reinhard Kaiser-Mühlecker, österreichischer Schriftsteller
Für den österreichischen Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker („Enteignung“; „Wilderer“) war „von all den frustrierenden Lektüren die frustrierendste: Goethes ‚Faust‘. Sinnlos, das Fünfzehnjährigen zu lesen zu geben“.
Nun haben diese drei trotzdem zur Literatur gefunden, sogar in einer extremen Form: Sie schreiben selbst welche. Und ihre Schulzeit war nicht nur von widerwilligem Lesen geprägt: Dana Vowinckel hat unter der Schulbank gelesen, für Shida Bazyar war es ein Highlight, einmal die Woche in die Stadtbibliothek zu gehen, Reinhard Kaiser-Mühlecker liebte es im Lateinunterricht Ovid, Vergil und Horaz zu übersetzen. Und doch ist Frustration und Widerwille das, was den meisten Menschen einfällt, wenn man sie auf ihre Schullektüre anspricht. Weit seltener sind Begeisterungsbekundungen und Jubelstürme.
Ein Unterricht, der das Gegenteil des Gewünschten bewirkt
Dieses Frustrationsfazit bezüglich Schullektüren steht im starken Kontrast zu der Hoffnung, die man eigentlich in den Deutschunterricht setzt. In einer Zeit, in der es immer weniger selbstverständlich ist, Bücher zu lesen, einhergehend mit einem Unbehagen an diesem Kulturwandel, wird an den Schulunterricht die Erwartung herangetragen gegenzusteuern. Deutschunterricht soll an das Lesen heranführen, von Büchern begeistern und die Lektüre zum festen Teil des Lebens machen.
Jedoch hat Schullektüre mitunter den gegenteiligen Effekt, wie es etwa für die Schriftstellerin Isabelle Lehn („Binde zwei Vögel zusammen“; „Frühlingserwachen“) der Fall war: „Die Schullektüre hat mich eher daran zweifeln lassen, dass Literatur etwas mit meinem Leben zu tun hat. Eher hat sie mir ein abschreckendes Bild von,Literatur' vermittelt, von dem ich dachte, dass es wenig mit meinen Erfahrungen, meiner Perspektive und meiner Sprache zu tun hat. Bücher, die mich verändert, getröstet, begeistert, bewegt und zum Nachdenken gebracht haben, kamen erst später.“
Niemand erwartet vom Mathematikunterricht, dass er so von den Zahlen begeistert, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit Gleichungen lösen. Auch wenn mancher mangelnde naturwissenschaftliche Bildung bemängelt, ist doch nicht die Erwartung, durch MINT-Unterricht lauter Hobbychemiker und Freizeitphysikerinnen heranzuzüchten. Beim Deutschunterricht ist die implizite Erwartung größer: Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur dazu gebracht werden, korrekt und verstehend zu lesen, sondern sogar dazu, es über die Unterrichtspflichten hinaus gerne und freiwillig zu tun.
Natürlich besteht diese hohe Erwartung nicht ohne Grund: Viel mehr Menschen haben Bücherlesen als Hobby denn Stochastik und Wärmelehre. In Büchern steckt Leben, Weisheit und nicht zuletzt Witz und Unterhaltung. Trotzdem kann die Art, wie Literatur in der Schule vermittelt wird, nämlich vom Lehrplan erzwungen und mit Prüfungen bewehrt, diesen Vorzug verspielen. Eine potenzielle Freizeitbeschäftigung verliert ihren Charakter als Freizeitbeschäftigung, wenn man dazu gezwungen wird.
So sagt etwa Reinhard Kaiser-Mühlecker über die Wirkung von Schullektüre auf ihn: „Ich habe immer verstanden, dass man in der Schule gewisse Dinge tun muss, aber als es ums Lesen ging, hatte ich kein Verständnis dafür. Wenn gesagt wurde, man müsse bis zum nächsten Tag irgendetwas rechnen, war das in Ordnung, eine Aufgabe, aber Lesen, das war doch etwas Höchstpersönliches, Intimes, das keinen etwas anging, ob ich es tat oder nicht? Das konnte, durfte einem doch nicht aufgetragen werden? Da verging mir die Lust am Lesen.“
Lobhudelei? Bloß nicht!
Aber nicht bloß der Zwang zum Lesen kann die Lust am Lesen vermiesen, auch jede andere Lobhudelei, die das Lesen von Büchern gemeinhin erfährt, kann die Motivation zerstören, aus eigenem Antrieb zu lesen. Dana von Suffrin, Autorin des vielfach preisgekrönten Romans „Otto“, berichtet vom vergeblichen elterlichen Streben, dem Kind durch Argumente und Pathos die Bücher näherzubringen: „Ich erinnere mich noch an die lustigen Elternsätze: Ein Buch ist ein Wunder! Lesen ist gut für deine Fantasie! Ehrlich gesagt: Ich habe trotzdem 95 Prozent meiner sogenannten Jugend vor der Glotze verbracht. Das Lesen habe ich später nachgeholt, aber dafür kannte ich wirklich jede Folge von Arabella Kiesbauer und Vera am Mittag.“
Zwei psychologische Phänomene kommen hier zum Tragen: Dissonanz und Reaktanz. Dissonanz bezeichnet in der Psychologie ein unangenehmes Gefühl, dass dadurch entsteht, dass man zwei Kognitionen hat, die miteinander inhaltlich unvereinbar sind. Man bemüht sich dann darum diese Dissonanz aufzulösen. Steht Lesen einem zunächst für Freiheit, Freiwilligkeit und Individualität, wird man dann aber schulisch zum Lesen gewisser Bücher gezwungen, muss dieser Widerspruch gelöst werden, etwa indem man die Lust am Lesen aufgibt und es als lästige Pflicht wie die übrigen Hausaufgaben betrachtet.
Reaktanz wiederum ließe sich in die Alltagssprache mit „Trotz“ übersetzen. Man wird gezwungen, ein Buch zu lesen? Man sträubt sich. Eltern reden mit Engelszungen auf einen ein, wie erhebend die hohe Literatur ist? Man dreht den Fernseher noch ein bisschen lauter. An dieser Reaktanz gegen Literatur ist besonders interessant, dass viele gute Literatur revolutionär, rebellisch oder zumindest trotzig ist, dass sie also anschlussfähig wäre für jene Affekte, die wohl in Pubertät und Adoleszenz besonders stark ausgeprägt sind.
In einigen Fällen kann es dazu kommen, dass der jugendliche Wunsch nach Individualität und Unabhängigkeit mit der Subversion und Widerständigkeit guter Literatur zusammenfindet. So berichtet etwa Roman Ehrlich („Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“; „Malé“) über seine Jugend: „Mir hat einmal der sehr viel ältere Bruder eines Schulfreunds das Buch,Der Fänger im Roggen‘ von J. D. Salinger gegeben, mit dem Kommentar, das könnte ein Einstieg sein für mich in die ‚richtige Literatur‘. Wir haben das zum Glück nicht in der Schule behandelt. Durch den Bruder des Freundes wurde das Buch von einer respektablen Instanz empfohlen.
Ich hätte wohl jedem Lehrer damals das Prädikat ‚richtige Literatur‘ sehr übelgenommen oder es schlicht abgelehnt, mich mit dem, was da ‚richtig‘ sein sollte, überhaupt zu befassen. Da der Schulfreundbruder aber einer war, zu dem ich aufschaute, weil er cool war, war die,richtige Literatur' plötzlich von einem Geheimnis umgeben, war eine Einladung in eine Parallelwelt, die ich annehmen wollte.“
Hier hat es funktioniert, weil Literatur freiwillig war, individuell und erstrebenswert. Und da war die andere Person, zu der man aufschaute, die einen nicht überzeugen wollte, aber deren Begeisterung ganz von selbst überzeugte.
Auch im Leben von Dmitrij Kapitelman („Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“; „Eine Formalie in Kiew“) gab es diese Schlüsselfigur, die ihre Buchbegeisterung weitergab: „Ich war zwölf und wir lebten in einem monströsen Leipziger Plattenbau voller grimmiger Leute und Nazis. Doch im zweiten Stock wohnte eine wunderbare, warmherzige und so kluge Frau Namens Gisela. Wie wir uns angefreundet haben, weiß ich leider nicht mehr. Aber Gisela begann, mich mit Büchern aus ihrem Schrank zu versorgen. Stefan Zweigs,Schachnovelle‘, der,Reigen' von Arthur Schnitzler. Bald kam ich immer wieder und bat Gisela, ihr Schränkchen zu öffnen. Heute bin ich ihr unendlich dankbar.“ Und auch das Rebellische fand Kapitelman so in der Literatur: „Bald genug habe ich so gern gelesen, dass ich die Schule in der Bibliothek schwänzte. Mir dabei ziemlich gewieft vorkommend, weil, wer würde einen Schwänzer in die Bibliothek suchen? Niemand!“
Aber die Rebellion kann auch mit kleiner Flamme brennen, gerade so, dass man sich von all denen abzukapseln weiß, die einen mit Unverständnis, Miesepetrigkeit oder Missionierungseifer das individuelle Erleben zerstören würden. So hat Anja Kampmann, („Wie hoch die Wasser steigen“; „Der Hund ist immer hungrig“) als Schülerin gern gelesen, aber: „Es gab nicht viele, mit denen ich darüber hätte sprechen können. Trotzdem war das Lesen wie eine Insel und eine eigene Welt, in die ich mich zurückziehen konnte.“ Auch so leise kann man sich behaupten.
Begeisternder Lehrer
Die Schlüsselfiguren wiederum, die begeistert sind und ihre Begeisterung weitergeben, müssen natürlich nicht die kluge Nachbarin im grimmigen Plattenbau oder der coole Bruder eines Schulfreunds sein, natürlich können auch Lehrerinnen und Lehrer Begeisterungsträger und Rollenmodell sein, so etwa bei Isabelle Lehn: „Richtig begeistern konnte ich mich für Shakespeare. Ich mochte seinen Humor, seine Sprachspiele, die,Puns‘. Allerdings hatte ich auch einen tollen Englischlehrer, der uns seine Verehrung für das elisabethanische Zeitalter und dessen Literatur eindrücklich weitergegeben hat.“
Auch bei Dana Vowinckel brauchte es den passionierten Pädagogen, um bei ihr das Interesse für Max Frischs „Andorra“ zu wecken: „Das hat ein junger Vertretungslehrer unterrichtet, danach habe ich,Montauk' gelesen und,Homo Faber‘ und mit ihm darüber gesprochen, ich glaube, ich war ein bisschen verliebt, aber vielleicht hat mir einfach mal jemand zugehört.“
Umgekehrt ist es allzu häufig der Fall, dass im Lehrkörper keine Begeisterung mehr zu finden ist, die weitergegeben werden könnte, wie es, genauso wie viele andere, die Schweizer Autorin Julia Weber („Immer ist alles schön“; „Die Vermengung“) erlebte: „Ich glaube, warum mir die Bücher, die wir lasen in der Schule immer ein bisschen fremd geblieben sind, war, weil die Lehrerinnen und Lehrer, die sie uns vermittelten, nicht so recht überzeugt waren von ihrer Liste an Büchern. Wenn jemand kam und sagte, das ist ein tolles Buch, ich liebe es, weil … Und lies es doch mal. Dann ist das was anderes, als wenn jemand sagt, ‚Der Besuch der alten Dame‘ lesen wir jetzt auch noch. Ist von Dürrenmatt. Von dem gibt es ein Bild, auf dem hat er einen Papagei auf der Schulter. Und es ist wohl eine Gesellschaftskritik.“
Begeisterung ist also die Ressource, auf die es in der Leseförderung ankommt. Nicht etwa die Begeisterung für ambitionierte Lehrpläne und gewisse Vorschriften, nicht die Begeisterung für Hohelieder auf die Literatur, nicht die Begeisterung für Untergangsszenarien der Lesekultur, sondern einzig die vorgelebte Begeisterung für das Lesen an sich. „Kinder tun nicht, was wir sagen; sie tun, was wir tun“, schreibt die Therapeutin Philippa Perry über die Rolle der Eltern für ihre Kinder. Jugendliche und junge Erwachsene eifern wiederum Vorbildern nach, die sie sich selbst aus guten Gründen gewählt haben. Sofern sie ihnen begegnen.
Aber natürlich kann die Begeisterung auch von den Schülerinnen und Schülern selbst kommen, die, auf welchen Wegen auch immer, auf die Literatur stoßen, die ihnen etwas zu sagen hat, die Literatur, in der man die Festigung der eigenen Individualität findet, die Herausforderung eingefahrener Denkweisen, in der man schmerzhafte Gefühle in der Ästhetik der Sprache aufgehoben fühlt, die Literatur, aus der man Empathie lernt, ebenso wie Selbstbeobachtung.
Dies würde bedeuten, dass noch so großes Bemühen um die Aktualität, Zugänglichkeit und Jugendgerechtigkeit von Lehrplänen vergebens ist, wenn sie trotzdem so starr und raumgreifend sind, dass kein Raum bleibt für Exploration und Experiment, kein Einfallswinkel für die begeisterten Funde von Lehrkräften und Schülerschaft. Wenn man das Lesen fördern will, muss man es befreien.
Leander Steinkopf, Jahrgang 1985, ist Schriftsteller, Essayist und Psychologe. Zuletzt von ihm als Buch erschienen: „Kein Schöner Land: Angriff der Acht auf die deutsche Gegenwart“ (zusammen mit Quynh Tran, Simon Strauß, Katharina Herrmann, Lukas Haffert et al., München 2019)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen