Literatur Reißt die Schoner von allen Dingen, wölbt die Himmel, lebt heftiger in dieser Welt aus Worten: Nis-Momme Stockmanns für den Leipziger Buchpreis nominierter Roman „Der Fuchs“: Ins Kleinste verliebt, ins Größte vernarrt
von Ekkehard Knörer
Erster Satz: „Und dann kam das Wasser.“ Der Deich bricht, das Wasser kommt, steigt und schwemmt alles weg. Auf ein Hausdach gerettet fürs Erste haben sich Finn Schliemann, der Held, Finn wie Huckleberry Finn, und ein paar seiner Freunde, Tille der Albino, der dicke Diego, der für die anderen fast zu normale Baumann und Jütte, dessen Freundin. Die Flut spült alles Mögliche an, Tiere und Menschen, einen bewaffneten Bauern, abgerissene Glieder, Verwesendes, Lebendes, Totes, Untotes, vor allem aber auch die Erinnerungen Finns an andere Zeiten. Was in „Der Fuchs“ in einem reißenden Strom im Lauf der gut 700 Seiten abgeräumt wird, ist allerdings nicht nur ein norddeutsches Kaff namens Thule (wie die mythische Insel), sondern letzten Endes die Welt. Kein Wunder, dass es zuletzt weit hinausgeht, dass alle Rahmen gesprengt sind, die der Zeit, die des Raums, am Ende macht sich das Buch davon Richtung Weltall und Science-Fiction und schließt so den Kreis.
„Und dann kam das Wasser“ – auch an James Joyce’„Finnegans Wake“ darf man denken, dessen erstes Wort „riverrun“ lautet und in dessen letzten Sätzen der Name des Helden zu „Finn, again“ wird. Finn, again, noch so ein Finn, das ist der eigentlich in gar nichts besondere Protagonist dieses ersten Romans von Nis-Momme Stockmann, der als Dramatiker in den vergangenen Jahren erfolgreich war und zu den viel gespielten jüngeren deutschen Autoren gehört. Mit „Der Fuchs“ hat er nun die große Erzählform am Kragen gepackt, und zwar atemberaubend, selbstbewusst, so dass kaum ein Zweifel besteht, dass dieser Autor sich und dieser Form alles zutraut.
„Der Fuchs“ ist ein Roman in Haupt- und Nebenströmen, in Vor-, Rück- und Anderswohinblenden. Der Hauptstrom ist eine Adoleszenzgeschichte. Der größte Teil spielt in den neunziger Jahren, einige Zeit, bevor das Wasser kommt, da ist Finn, der Held, der in diesem Hauptstrom als Ich-Erzähler fungiert, mitten in der Pubertät. Er hat eine Mutter – sie wird später gestorben sein, an Krebs – und einen Bruder, Reini, der geistig zurückgeblieben ist. Finn hat eine Freundin, Katja, wobei, Freundin, Liebe, es ist irgendwie etwas Kleineres als das, mehr als mal einen Kuss gibt es nicht, und etwas Größeres als das ist es auch, Katja ist eine Zeitreisende, sagt sie, die im Außenseiter Finn einen Komplizen, einen Verbündeten im verschwörungstheoretischen Weltmaßstab sucht und eine Zeitlang auch findet. Katja landet später in der Psychiatrie, und man könnte natürlich sagen, dass sie verrückt ist. So einfach aber macht das Buch es sich nicht. Denn wenn Katja verrückt ist, was ist dann dieser Roman?
Käfer und Hintermänner
Finn fehlt der Vater, Selbstmord, hieß es jedenfalls, wobei schon die Frage ist, ob das sein kann, dass einer sich die ganze Hand komplett absäbelt zum Zweck des Suizids. Zumal die Hand dann auch noch weg ist. Ein Stück fehlt, das Bild ist nicht ganz, das gilt an dieser wie an vielen anderen Stellen des Buchs. Für das Buch selbst gilt es nicht. Oder nicht einfach so. Eher quillt an all den Stellen, an denen etwas fehlt oder unklar bleibt, ganz anderes nach, da krabbeln Käfer, da tauchen Dunkel- und Hintermänner auf, da wächst etwas und wuchert, übersteigt die Dimensionen des Realen, ruft „Kri Krii Krrii“ und ist im Bund mit einer höheren Macht. Das Motto des Buchs, allerdings steht es nicht ganz vorne, sondern ganz hinten, verweist auf diesen antiaufklärerischen Zug. Es ist von Balzac: „Jede Macht ist undurchschaubar oder keine Macht, denn jede sichtbare Gewalt ist bedroht.“ So entzieht sich der Roman durchaus immer wieder ins Undurchschaubare, lässt die Wirklichkeit hinter sich, um bei etwas zu landen, das man mythischen Realismus nennen könnte.
Der Roman raunt aber nicht. Vielmehr ist er in Alltag wie Mythos glasklar, umgangssprachlich und oft absichtlich komisch. Weltschöpfung findet statt, da bedient sich Stockmann – recht frei – in Babylon, mit der Salzwasser-Weltmutter Tiamat, ihrem muttermörderisch und eigenschöpferisch ambitionierten Süßwasser-Gatten Abzu und Marduk, dessen nicht recht gelingen wollender Kreatur. Wie sich dieser mythische Nebenstrom zum Finn-Pubertätsroman-Hauptstrom verhält? Schwer zu sagen. Zumal sich noch andere Türen auftun, ein Portal, Falltüren vielleicht, zumal es noch Seitenzweige gibt, Nebenstränge, Abwege, und zwar der wirklich seltsamen Art. Die Geschichte zum Beispiel eines gestrandeten Künstlers, dessen Scheitern und Tod das Leben einer SPD-Stadträtin völlig entgleisen lässt.
Narrativ verbunden wird das eine mit dem anderen im Regelfall nicht. Manchmal gelangt etwas, eine Figur, ein Gefühl, ein „Kri Krii Krii“ oder die krabbelnden Käfer, von hier nach da. Im größeren Ganzen bleibt, bei aller Ahnung eines ganz großen Zusammenhangs, die Nebenordnung das Struktur- und Erzählprinzip, auch grafisch: Es gibt lange Kapitel, in denen Textblöcke in einer eigenwilligen, aber konsequenten Partitur der Linien und Ströme auf den Seiten verteilt sind. Manchmal scheinen die Ebenen und Plots dabei kurz davor, ineinander zu fließen, aber dann macht der Autor oder das Buch doch immer wieder einen trennenden Strich. Obwohl es über die Realitäts- und Irrealitätsebenen hinweg viel Verbindendes gibt: einen Hang zum tödlichen Ausgang; einen zwischen Grand Guignol und Horror oszillierenden Sinn für Drastik, für gewaltsam verletzte, aufgeschlitzte Körper.
Die Drastik des Romans ist aber eine Drastik, die nicht rein zerstörerisch ist, immer geht es auch um das Moment der Öffnung, einer Idee des Dahinter, die über den bloßen Alltag wie über bloße Körperlichkeit hinausweist. In dieser Idee des Dahinter steckt dann auch Stockmanns Programm, das in Passagen einer Art zeitdiagnostischer Essayistik ausgeführt wird, bei denen zunächst unklar ist, von wem die eigentlich stammen. Von Finn eher nicht, wobei der Erzähler-Finn oft genug überhaupt nicht wie ein Jugendlicher denkt oder spricht; gewagt ist es, wie das Buch Theoriesprache und Alltagsverdruckstheit mit oft genug komischen Wirkungen kontrastiert.
Das Gegenbild zu dem, was er will, nennt Stockmann Pop. Pop, heißt es einmal, „Pop ist nur ein anderes Wort für das Verheilen von Wunden. Oder eher: Für das Gar-nicht-erst-Zustandekommen von Wunden, durch das Überstreifen von Schonern aller Art.“ In diesem Sinn will „Der Fuchs“ ganz emphatisch Anti-Pop-Literatur sein, will die Schoner von den Dingen, die Gedärme aus den Körpern reißen. Stockmann will einen mythischen Himmel über das graue Gegenwartsthule wölben, er wünscht sich eine „Welt, in der man heftiger, ehrlicher, sinnvoller leben könnte“. Und weil das vitalistische Wünschen und Behaupten allein nicht hilft – de facto sind diese essayistischen ohnehin die schwächsten Passagen des Buchs –, hat der Romantiker Stockmann eine solche Welt aus Worten geschaffen. Es ist aber eine Welt, an die er nicht einfach glaubt, sondern mit deren Möglichkeit er fortwährend ringt, 700 Seiten lang, neue Mythologien erfindend und wieder bezweifelnd, im konvulsivischen Hin und Her, im Kampf zwischen Nüchternheit und Wahnsinn, im Nebeneinander von viszeraler Körperlichkeit und verstiegener Spekulation.
„Der Fuchs“ ist, mit anderen Worten, ein Monster. Und nur als dieses Monster löst das Buch das Programm des Autors tatsächlich ein. Hier geht einer literarisch eben wirklich aufs Ganze. Stößt einen ab, reißt einen mit und zeigt einer Literatur, die die Wirklichkeit mimikryhaft sortiert und etikettiert, ihre Grenzen, indem er sie übersteigt. Nicht mühelos, sondern mit Gewalt, dabei brachial und lustig zugleich, maßlos und albern, ins Kleinste verliebt und ins Größte vernarrt. Das ist kein magischer Realismus, der das Irreale in vertraute Wirklichkeit ohne Weiteres hinstellt. Es ist nicht Fantasy, die mythomanisch Welten, als wäre das nichts, eine nach der anderen baut. Die Frage nach den denkbaren und undenkbaren Horizonten unserer Realität ist in „Der Fuchs“ vielmehr die strömende Form der Romanfindung selbst.
Nis-Momme Stockmann: „Der Fuchs“. Rowohlt, Reinbek 2016, 720 Seiten, 24,95 Euro
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