Links-Oppositionelle über Polens Krise: „Politik des Dialogs, nicht der Wut“
Die junge Partei Razem will Politik für sozial Benachteiligte machen – und kritisiert den autoritären Ansatz der Regierung, erklärt Aleksandra Cacha.
taz: Frau Cacha, seit Wochen gehen Tausende Polinnen und Polen auf die Straße, um die Demokratie in ihrem Land zu verteidigen. Wie schlimm steht es denn um die Demokratie in Polen?
Aleksandra Cacha: Die Sorge um die Demokratie ist berechtigt. Bislang wurden die öffentlichen Institutionen in Polen noch nie in diesem Maße angegriffen. Wir haben den Versuch gesehen, das Verfassungsgericht zu blockieren, Gesetze wurden ohne öffentliche Debatte über Nacht erlassen, die Medien kolonialisiert. Allerdings haben die Institutionen auch die Möglichkeiten, sich selbst zu verteidigen. Vor allem das Verfassungsgericht hat eine starke Position. Es kann direkt auf Grundlage der Verfassung regieren und somit die Versuche der PiS blockieren, seine Arbeit zu beschneiden.
Ihre Partei Razem ruft nicht zur Teilnahme an den Demonstrationen des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD) auf. Warum? Wollten Sie als linke Partei nicht zusammen mit den Liberalen und Neoliberalen auf die Straße gehen?
Natürlich nehmen die Mitglieder von Razem an den Demonstrationen teil – diese sind aber meist Demonstrationen ohne Logos, auch ohne Parteilogos. Zudem gab es eigene Razem-Demos. Aber wir werden nicht neoliberale Politiker als Verteidiger der Demokratie legitimieren. Es ist ihre Politik, die das Wachstum von PiS gebracht hat.
Inwiefern?
Die vorherige Regierung vertrat das Establishment und hat sich kaum um den ärmeren Teil der polnischen Gesellschaft gekümmert. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs zwar, aber zum Preis der Prekarisierung, Löhne unterhalb des Armutsniveaus, Millionen von Arbeitern, die versuchen unter instabilen Bedingungen zu überleben. Wirtschaftspolitisch gibt es keinen großen Unterschied zwischen PiS und der vorherigen Regierungspartei, der Bürgerplattform PO: Beide sind gegen höhere Steuern für Millionäre und Unternehmen. Der Volkszorn, der der PiS zur Macht verholfen hat, ist ein Produkt der Wirtschaftspolitik der vorigen Regierung.
Razem hat bei den Wahlen zum Sejm am 25. Oktober aus dem Stand heraus 3,6 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Hat Sie das überrascht?
Ja, weil Razem eine sehr junge Bewegung ist. Sie besteht zu 80 Prozent aus Leuten, die sich vorher nicht politisch engagiert haben. Es hätte also auch schiefgehen können. Auf der anderen Seite bin ich nicht überrascht, weil bei uns viele engagierte Menschen aktiv sind, die alles daran gesetzt haben, die 100.000 Unterschriften zu sammeln, die wir brauchten, um zur Wahl zugelassen zu werden.
geboren 1975 in Danzig, ist Psychologin und Übersetzerin. Sie engagierte sich politisch im Netz, bevor sie bei Razem (Deutsch: „gemeinsam“) anfing. Die Partei wurde am 16. Mai 2015 gegründet.
War mit der Teilnahme an der Wahl auch die Frage entschieden, ob Razem eher eine Bewegung von unten ist oder eine ganz normale Partei?
Wir sind beides. Wir haben uns aber als Partei gegründet, weil die vergangen Jahre gezeigt haben, dass es nur eine Möglichkeit gibt, etwas zu verändern, wenn man im Parlament vertreten ist und über die Gesetze mitbestimmen kann. Das heißt nicht, dass wir soziale Bewegungen nicht für wichtig hielten.
Griechenland und Spanien haben gezeigt, dass es auch eine linke Antwort auf die Krise gibt. Sind Syriza und Podemos Vorbilder für Razem?
Wir machen kein Geheimnis daraus, dass Podemos eine Partei ist, die uns sehr inspiriert. Syriza ist sehr schnell sehr groß geworden. Wenn eine neue linke Bewegung zu schnell an die Macht kommt, aber unter dem Druck der neoliberalen Institutionen bleibt, kann das auch ein trauriges Beispiel sein. Es ist nicht genug, in einem Land zu gewinnen.
Für polnische Verhältnisse ist Razem eine eher ungewöhnliche Partei. Sie haben keinen Vorsitzenden, die Entscheidungen werden basisdemokratisch gefällt.
Das steht im Gegensatz zu den Medien, die immer nur das eine Gesicht zeigen wollen.
Anlass: Beata Szydło, nationalkonservative Ministerpräsidentin Polens von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) kommt am heutigen Freitag zu ihrem Antrittsbesuch nach Berlin – rund drei Monate nach Übernahme der Regierungsgeschäfte in Polen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfängt sie um 12 Uhr mit militärischen Ehren. Die beiden Länder blicken auf 25 Jahre Nachbarschaftsvertrag zurück.
Stimmen: „Darauf freut sich die Bundeskanzlerin“ (Regierungssprecher Steffen Seibert) – „Polen muss man umarmen, nicht verstoßen“ (Vizekanzler Sigmar Gabriel, SPD) – „Nicht jeder mag Brokkoli. Aber dies ist noch kein Grund, die Freundschaft zu kündigen“ (der polnische Philosoph Leszek Kołakowski) – „Eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern (...) Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun.“ (Polens Außenminister Witold Waszczykowski).
Sie meinen das Gesicht von Adrian Zandberg, der bei einem Fernsehduell vor den Wahlen punkten konnte und so zu einer Art Popstar von Razem wurde.
Aber es ist eben nicht so, dass nur das eine Gesicht die Partei repräsentiert. Unser Slogan heißt: Eine andere Politik ist möglich. Das bedeutet aber auch, dass es andere Modelle gibt, eine Partei zu führen.
Sie sind sich also bewusst, dass die Gefahr besteht, wie bei der 5-Sterne-Bewegung mit Beppe Grillo in Italien zu einer One-Man-Show zu werden?
Wir machen alles, dass es dazu nicht kommt. Deshalb gebe auch ich Ihnen dieses Interview.
Worüber wir uns sehr freuen. Die PiS von Jarosław Kaczyński hat die Wahlen unter anderem mit sozialdemokratischen Versprechen wie einem Kindergeld von 500 Złoty, etwa 125 Euro, gewonnen. Was halten Sie davon?
Das, was die PiS verspricht, und was sie realisiert, das sind zwei völlig verschiedene Sachen. Natürlich gab es viele Leute, die die PiS gewählt haben, weil es die erste Partei seit vielen Jahren war, die soziale Versprechen wie das Kindergeld gemacht haben. Aber schon bei diesem Programm 500 Plus, also dem Kindergeld, ist zu sehen, dass die Idee das eine ist, und die Umsetzung das andere. Zum Beispiel bekommen alleinerziehende Mütter das Kindergeld erst ab einer bestimmten Einkommensgrenze. Außerdem gibt es das Kindergeld erst ab dem zweiten Kind.
Wie viel Prozent der Wähler haben die PiS wegen der sozialpolitischen Versprechen gewählt und wie viele wegen Kaczyński, also ihrem nationalistischen und konservativen Markenkern?
Das ist eine Frage, die in erster Linie natürlich an die Meinungsforschungsinstitute geht. Wir glauben aber, dass etwa die Hälfte der PiS-Wähler die Partei in erste Linie wegen ihrer nationalkonservativer Gesinnung gewählt haben. Die anderen wollten schlicht und ergreifend die alte Regierung abwählen. Natürlich setzen wir darauf, dass wir diese Leute für unsere Politik gewinnen können.
Die neoliberale Politik der Vorgängerregierung hat viele Menschen in prekäre Verhältnisse getrieben. Wie wollen Sie die Verlierer der Modernisierung von der PiS oder anderen rechtspopulistischen Parteien wie Kukiz für sich gewinnen?
Wir lehnen sowohl Neoliberalismus als auch Autoritarismus ab. Razem ist die dritte Option: Wir wollen ein demokratisches Polen, das sich um soziale Gerechtigkeit bemüht. Und wir wollen eine positive Politik machen. Die Politik der PiS und der Kukiz-Bewegung ist nicht konstruktiv, sie facht den Zorn und die Wut der Leute eher weiter an. Uns geht es geht nicht um Konfrontation, sondern darum, dass wir wieder miteinander reden, den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Eine Politik des Dialogs und nicht der Wut. Razem, also gemeinsam, das ist mehr als jeder nur für sich allein.
Die SLD, die postkommunistische, alte Linke, hat abgewirtschaftet. Was wollen Sie als neue Linke besser machen?
Mir fällt es schwer, von der SLD als einer linken Partei zu sprechen. Im Grundsatz ist das eine postkommunistische Partei gewesen, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik betrieben hat und deren Politiker oft sehr konservative Vorstellungen hatten. Wir wollen stattdessen den Begriff der Linken wieder zurückgewinnen. Ihm wieder den Inhalt zu geben, den er verdient. Wir wollen eine Partei sein, die Politik für die macht, die Unterstützung brauchen.
Ist die polnische Zivilgesellschaft so stark, dass aus Polen kein zweites Ungarn wird?
Anders als in Ungarn hat die PiS in Polen keine Zweidrittelmehrheit und kann damit auch die Verfassung nicht ändern. Das Problem liegt eher in der Zukunft. Wenn bei der nächsten Wahl die Neoliberalen gewinnen und der Unmut immer größer wird, kann es bei der übernächsten Wahl zu einer Pendelbewegung und zu einem Erdrutschsieg der Rechten kommen, so dass sie dann die Zweidrittelmehrheit haben. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir bis dahin stark genug sind und tatsächlich einen dritten Weg anbieten können. Die Zivilgesellschaft in Polen ist stark. Es gibt eine Riesenenergie.
Am Freitag kommt Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło zum Antrittsbesuch nach Berlin. Dürfen deutsche Politiker Kritik am autoritären Umbau des Staats in Polen äußern?
Die Kritik an demokratischen Standards ist ja gerechtfertigt. Das Problem liegt eher darin, dass sie durch die PiS für die eigenen Ziele vereinnahmt wird. Nach dem Motto: Seht her, die Deutschen kritisieren uns schon wieder. Daraus kann man immer noch politisches Kapital schlagen. Aber wird sind Mitglied der Europäischen Union und ein Streit über demokratische Prinzipien ist wichtig.
Was können Sie als neue linke Partei, die nicht im Sejm vertreten ist, gegen die autoritäre Politik tun?
Wir als Razem sagen: Wir müssen gegen die Zustände protestieren und die Dinge beim Namen nennen. Nur sollten wir keine Panikmache betreiben. Wenn der Zeitpunkt kommt, dass die öffentlichen Institutionen sich tatsächlich nicht mehr selbst verteidigen können, dann besteht allerdings eine andere Situation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis