Liebling der MassenUli Hannemann : Gott in der Fußnote
Vor Jahren hatte ich einen Lektor, der das Wort „kregel“ nicht kannte und nicht wusste, dass Jungvögel im Nest „sperren“. Damals war das eine reine Bildungslücke. Doch heute steckt oft ein Generationen-Gap dahinter: Denn bei der Redaktion meiner Texte zeigen gerade jüngere Kolleg:innen immer öfter Erklärungsbedarf: „Du hast da einen ‚Charles Manson‘ erwähnt“, heißt es beispielsweise. „Da müsste man vielleicht dazuschreiben, wer das ist. Den kennen die Leute gar nicht mehr.“
Die Leute. Gute Frage: Wer sind die? Die oder ich oder wer dazwischen? Ich gelte offenbar als Dinosaurier, dem zunehmend das Gefühl dafür abgeht, was zurzeit überhaupt noch unter „Allgemeinwissen“ fällt. Ich sage im Alltag ganz selbstverständlich „Potzblitz“, „Tausendsassa“ oder „cool“. Die Ausdrücke sind ihnen fremd. Dann fragen sie mich im Altenpfleger-Wir, ob „wir nicht eventuell Fußnoten machen können“. Für die Leserschaft. „Also nur online“, hieß es neulich am Redaktionstelefon. „Im Print können wir das ruhig lassen – den lesen ja gerade auch viele Ältere.“
Nein, es nervt mich nicht wirklich. Ich finde es fast niedlich, womöglich auch ein ganz kleines bisschen von oben herab, weil, klar, meine Reminiszenzen sind sicher nicht immer brandaktuell. Aber ich kam früher doch auch nicht auf die Idee, dass die Altvorderen als persönlichen Sonderservice für mich jedes Mal haarklein erläuterten, wer Hitler oder Goethe war. Mann, Leute, das weiß man doch. Aber okay, ich bau euch da mal’ne Fußnote, damit ihr wisst, was ein Stuhl ist, ein Chair nämlich, oder wer Gott war oder Julius Cäsar. Das denke ich manchmal mit einem grimmigen Lächeln.
Wenn ich aber merke, dass am anderen Ende der Leitung (das ist auch so ein überkommener Begriff: „Leitung“, „Hörer“ – da fehlt nur noch das Fräulein vom Amt) jemand meinen Hochmut spürt, schäme ich mich dann doch ein bisschen. Weil ich ja im Grunde weiß, dass meine Hybris vollkommen unangebracht ist, ebenso wie mein onkelhaftes Spötteln über ihre alterstypische, leichte Dauerverpeiltheit oder darüber, dass sie weder Charles Manson, Debbie Harry noch Helmut Schmidt kennen und nicht wissen, wie man die Zeit von einer echten Ticktack-Uhr abliest. Oder allgemein, mich überlegen zu fühlen, nur weil sie meinen Mittelaltersprech und meinen antiquierten Wissenskanon nicht teilen.
Das ist aber völliger Quatsch. Die haben ja nicht weniger, sondern schlicht ganz andere Sachen im Kopf. Ich selbst weiß ja zum Beispiel wiederum gar nicht, wer diese Britney Swift ist oder was Clitoral Approbation und White Shellfishness bedeuten. Und nicht nur andere Sachen, sondern obendrein auch noch viel mehr. Denn ihr Gehirn ist der Computer, meines das zerfledderte Lexikon in zwanzig Bänden.
Im Vergleich zu mir sind die Jungen nämlich absolute Tausendsassen. Ihre scheinbare Verpeiltheit rührt ja nur daher, dass sie die ganze Welt auf einmal mit sich im Kopf herumtragen, mit all ihren äußerst komplexen Zusammenhängen, die mich heillos überfordern. Meine Fähigkeit, einen Stadtplan aus Papier zu lesen oder zu wissen, wie die Muhkuh macht, ist heute etwa so viel wert wie die, einen Speer aus Knochen zu schnitzen. Sie tragen nicht wie ich Telefonnummern, Wetterberichte, Hubraum, Kochrezepte, all das mühsam angesammelte, nutzlose Wissen die ganze Zeit über mit sich im Kopf herum, wo es eh bloß langsam verschimmelt.
Stattdessen sind sie superflexibel und können sich bei Bedarf alles jederzeit im Nu einfach aneignen, während ich schon an einem Plastikschraubverschluss scheitere, der nicht mehr von der Flasche abgeht.
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