Liebling der MassenUli Hannemann: Drei Quadratmeter Deutschland
Der ICE nach Berlin fährt in den riesigen Leipziger Kopfbahnhof ein und hält dort erst einmal gründlich, als wolle er tief Luft holen, um Anlauf zu nehmen für die abschließende Etappe in die gleichsam geliebte und gehasste Meckermetropole, die erst den Führer in den Suizid und dann den chinesischen Künstler Ai Weiwei aus der Stadt zu treiben wusste.
Das ändert gar nichts, denn der Zulauf frischer Unsympathen wird dort nie versickern. Die Hauptstadt bleibt ein Magnet für manierierte Idioten. So wie diese Frau, die mit theatralisch zur Abwehr wedelnden Händen quer durch den armselig bemessenen Raucherbereich direkt vor meinem Wagenfenster schreitet. Ein warngelb markiertes Quadrat der Elenden, ohnehin schon winziges und lebensfeindliches Reservat für die letzten aufrechten Indianer der Unvernunft. Es ist ein Hohn, was ihm, dem einst so stolzen Paffer, der die ebene Prärie ebenso beherrschte wie die hohen Bergwälder, die Wohn- und Schlafzimmer, Autos, Züge und Flugzeuge, Fernsehtalkshows, Restaurants und Krankenhäuser, vom Gesundgesicht und seinen falschen Göttern gelassen wurde: Ein Nichts, und selbst das machen sie ihm in ihrer Gier, ihrem Neid und ihrem Hass auf alles, was sie nicht verstehen, noch streitig, indem sie auf den drei Quadratmetern Raucherinsel einen weiteren überflüssigen Stand für Quinoa-Wraps errichten wollen.
„Erst wenn die letzte Kippe gequalmt, die letzte Raucherkneipe geschlossen, der letzte Aschenbecher geleert ist, werdet ihr merken, dass man Selleriesmoothies nicht rauchen kann“, erinnert nur noch eine bekannte Weissagung an den ausgerotteten American Spirit.
Der Frau – aus Alter und Auftreten schließe ich auf eine Studentin am Leipziger Institut für Nonverbale Kommunikation – ist das egal. Sie fühlt sich beeinträchtigt und belästigt. Das kann sie dann ruhig auch zeigen, muss sie sogar. Gestik und Mimik sind die einer Burgschauspielerin – das Stück heißt „Ekel“, „Empörung“ oder „diese bleichen Mikroben pusten mich Hochwohlgeborene rücksichtslos mit ihrem räudigen Lungenkrebs voll“, und dies ist sichtlich nicht erst die Premiere.
Husch, fort, Gesocks, so spüre ich das Edelfräulein denken. Mir ist nicht wohl dabei, euch hier zu sehen und zu riechen. Euer Elend an Gleis zwanzig macht mich schaudern. Mit lautloser Stimme singt ihr mir das Lied vom Tod. Sie hätte natürlich auch kurz außen rum gehen können; das hätte durchaus im Bereich des Möglichen gelegen.
Auf einmal sehe ich die Raucher mit ihren Augen. Die grauen, grünen und gelben Gesichter der Süchtigen. Denn nichts anderes sind sie, Junkies, die sich in einem zugigen Bahnhof in den acht Minuten zwischen Ankunft und Weiterfahrt mal eben schnell den billigen Schuss ins falsche Glück setzen. Ein vollkommen anachronistisches Szenario; lepröse Landsknechte mit nikotinbraunen, faulenden Fingern; wandelnde Schockbilder verströmen den Pesthauch des Verfalls und der haltlosen Schwäche.
Zum echten Junkie fehlt wiederum der morbide Kultfaktor von Christiane F. und David Bowie, von Velvet Underground bis „Trainspotting“. Hier stehen nur banale Raucher, die nicht mal die vier Stunden von München nach Berlin ohne Fluppe aushalten. Wären ihre Eltern keine Ärzte, würde die Frau jetzt ausspucken.
Aber es mischt sich auch Mitleid in ihre Verachtung. Mögen die armen Seelen bald Frieden finden, wünscht sie ihnen, ihr rascher Tod wäre für sie sicher das Beste.
Und für mich ebenfalls, kann sie sich dann doch ein leises Schmunzeln nicht verkneifen, angesichts der Boomer, die sich selbst ins Koma quarzen: Dunkeldeutschland schafft sich ab.
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