: Liebesspiel mit Ehemann
Sprache kann Heimat sein. Und ein Stück Identität. Doch das merkt man erst, wenn man sich von seiner Muttersprache entfernt
VON ANNA STEEGMANN
Vor fünfundzwanzig Jahren lief ich meinem vertrauten Leben davon – und verliebte mich. Es war ein Samstagnachmittag im September; ein heißer Tag, wie es sie in Deutschland nur im Hochsommer gab. Der Himmel über dem Washington Square Park strahlte. Deutsche Städte waren grau. Samstags nachmittags wurden sie zu Friedhöfen. In New York dagegen tobte das Leben.
Drogenhändler, Feuerschlucker und Musiker warben lauthals um die Gunst des Publikums. Hyperaktive kleine Hunde kläfften und rannten um die Wette. Hunderte von Blockbuster Radios kreierten einen ohrenbetäubenden Soundtrack. Menschen aller Rassen tanzten zu Parliament Funkadelic. Sie verständigten sich in einer Vielzahl von Sprachen.
In meiner Liebesblödigkeit entschied ich mich zu bleiben. Ich ließ mein altes Leben hinter mir, meine Freunde, meine komfortable Wohnung, meine sichere Aussicht auf Rente – und meine Muttersprache. Hier in New York würde ich neu anfangen ohne die Trübsal meines bisherigen Lebens. Ich war zuversichtlich, die englische Sprache in kürzester Zeit meistern zu können. Wie schwer konnte das schon sein? In meinem alten Leben hatte ich schwierige Bücher wie Kants „Kritik der Urteilskraft“ gelesen, eine zweihundert Seiten lange Diplomarbeit, Essays und Gedichte geschrieben. In meinem neuen Leben schrumpfte mein Vokabular auf das einer Zehnjährigen zusammen.
Mit Ach und Krach quälte ich mich durch das Äquivalent der Bild-Zeitung, die New York Post. Kleine Alltagsfreuden trösteten mich. Ich war fünfundzwanzig, wohlproportioniert, und Männer liebten meinen Akzent. „Sprich weiter, egal was. Erzähl vom Wetter“, bat ein Verehrer. Auf dem Weg zu einer Verabredung platzte mir der Reißverschluss meines Kleides. Ich rettete mich zu Woolworth und fragte die Verkäuferin: „Do you carry security needles?“ Sie starrte mich verständnislos an. Ich blieb beharrlich. „Für wenn man es zusammenhalten muss!“ Sie starrte noch verständnisloser. Ich leistete Schwerstarbeit, doch ohne das rechte linguistische Werkzeug war kein Entkommen aus dieser Sackgasse. Zu guter Letzt nahm ich meinen Füller aus der Handtasche und malte zwei von einer Sicherheitsnadel zusammengehaltene Stücke Stoff. Die Verkäuferin grinste breit: „Okay, I get it. You want a safety pin.“
Was andere lustig fanden, war mir peinlich. Der Buchhändler im Spring Street Bookstore und seine schönen, gutmütigen Cockerspanielaugen hatten es mir angetan. Ich nahm meinen Mut zusammen, pirschte mich an den Ladentisch heran und fragte: „Die Granta, bitte?“ Im Schaufenster hatte ich die dem Neuen Deutschland gewidmete Ausgabe gesehen und war durch den Umschlagtext des Magazins neugierig geworden: „Krauts: What is it about the German people that produces a nation so – what? So ugly? So dangerous? So predictable?“ – „What issue are you looking for?“, fragte der Verkäufer. Issue? Issue? Was war das? Unfähig, ein Wort herauszubringen, floh ich mit rotem Gesicht. Zu Hause zog ich meine besten Freunde zu Rate. Doch Langenscheidt’s New College German Dictionary und Webster’s New World Dictionary of the American Language ließen mich im Stich. Webster’s wartete mit neun Bedeutungen für issue auf: „a point of debate“ oder „a discharge of pus“? Pus? Was war das? Nachschlagen: „Eiterausfluss!“ Ich saß allein in meinem Zimmer und brüllte: „Ich bin doch kein Idiot.“ Niemand hörte mich.
Humor verschwand nahezu ganz aus meinem Leben. In einer Gruppe von Menschen, in der einige vor Lachen brüllten und andere sich prustend auf die Schenkel schlugen, saß ich als humorlose Ausländerin dabei und bemühte mich, die Scherze und Pointen zu verstehen. Bei so subtilen Bedeutungsnuancen konnte mir keiner Aufklärung verschaffen. Ich tröstete mich mit der Buster-Keaton-Retrospektive im Film Forum. Bücher bereiteten mir kaum noch Freude. So viele Wörter, die ich im Wörterbuch nachschlagen musste. Jemand empfahl mir „The Crying of Lot 49“ als Thomas Pynchons zugänglichsten Roman. Frustriert gab ich nach dem ersten Absatz auf. Ich gab das Schreiben auf. Ein Schriftsteller, so Kant, brauchte angeborenes Talent und Genius. Ich hatte Talent, war aber kein Genie. Gab es überhaupt Menschen, abgesehen von Samuel Beckett, Joseph Conrad und Vladimir Nabokov, die in zwei Sprachen schreiben konnten?
Musste ich Nachrichten auf Anrufbeantworter hinterlassen, versetzte es mich jedes Mal in Panik. Wörter wie vegetable, refrigerator und schedule schikanierten mich. Wie brachten es Amerikaner fertig, ihre Zungenspitze hinter die Schneidezähne zu quetschen, um den richtigen „th“ Laut zu produzieren? Senkte ich meine Zähne in ein Stück Nusstorte, dann hörte sich das so an: „My gutness, ziss is wanderfull.“
Kinder erlernen ihre Muttersprache ohne formale Unterweisung. In unserem Bewusstsein prägen sich Laute und Grammatik unserer Muttersprache so tief ein, dass nach der Pubertät keine andere Sprache an ihre Stelle treten kann. Was heißt das für die armen Seelen, die die Zweitsprache mit dreißig, vierzig oder sechzig erlernen müssen?
Heute ist Englisch für siebenundvierzig Prozent aller New Yorker Zweitsprache. Meine Fußpflegerin ist eine Diplomsoziologin aus Usbekistan, der Taxifahrer ein Ingenieur aus Senegal, der Pförtner im Hochhaus meiner Freundin ein Anthropologe aus Kolumbien. Damals beneidete ich meine New Yorker Mitbürger. Sie hatten ihre Familie, ihr Viertel, ihre Zeitungen und ihre Fernsehstationen, bei denen sie sich am Feierabend in ihrer Sprache entspannen konnten.
Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, verkaufte ich Nüsse von einem Handkarren und putzte für alte jüdischen Damen, die schon vor Jahrzehnten aus der Ukraine, Polen oder Russland nach New York gekommen waren. Am liebsten war mir Mrs. Rabinowitz, 82, aus Odessa. Ihre Kinder lebten in stattlichen Häusern mit großen Gärten in Kalifornien und New Jersey, aber sie weigerte sich, zu ihnen zu ziehen. „Du wirst schon sehen, pulsiert New York erst mal in deinen Adern, kommst du von der Stadt nicht mehr los.“
Wie die meisten großen Lieben wurde auch meine Liebe zu New York vom Alltag eingeholt. Immer häufiger hatte ich Sehnsucht nach Deutschland und der deutschen Sprache. Von Heimweh geplagt, spazierte ich den Sauerkrautboulevard – die East 86th Street zwischen Second und Lexington Avenue – entlang und gönnte mir einen Besuch in der Kleinen Konditorei. Die Schwarzwälder Kirschtorte erquickte meine Seele, denn sie war fast so gut wie die meiner Mutter. Heute gibt es die Kleine Konditorei nicht mehr. Sie musste wie fast alle deutschen Geschäfte den Megastores von Victoria’s Secret, Footlocker und Barnes and Nobles weichen. Im Lokal saß ich zwischen Rentnern, Damen mit Wellblechfrisuren und Herren mit Tirolerhüten, die eine absonderliche Mischung aus Deutsch und Englisch sprachen. „Willkomm, mei ladies. Du lukst wanderfull mit dein neuen hairdo. Try den Mohnkuchen. So lecker! Pass mir die milk und das Süßstoff.“
Nach fünf Jahren las ich die New York Times, nach sieben Jahren dachte und träumte ich auf Englisch. Ich heiratete und nahm eine Stelle als Psychotherapeutin an. Der deutsche Akzent war kein Hindernis. Nach zehn Jahren büßte ich Eleganz und Redefluss meiner Muttersprache ein. Englische Idiome unterwanderten meine deutschen Sätze. Sprach ich Deutsch, musste ich jedes Mal mein Gehirn umschalten. Sonntags beim Telefonieren mit meiner Mutter sprach ich bestes Denglisch, das den deutschen Emigrés in der Kleinen Konditorei alle Ehre gemacht hätte: „Meine Arbeit ist stressful. Ich brauche unbedingt vacation.“
Ich war unglücklich, aber nicht allein. Willkommen im Verein der zweisprachig Behinderten. Um den weiteren Verlust der Muttersprache zu bremsen, entschloss ich mich, in Deutschland Fortbildungen für Lehrer und Sozialarbeiter anzubieten. Beim ersten Besuch schockierte mich die Invasion des Englischen in die deutsche Sprache. Ich zerbrach mir den Kopf nach passenden Wörtern. „Du weißt schon, diese Maschinen, wo man die Folien drauflegt. Man schaltet das Licht aus und projiziert auf eine weiße Leinwand.“ „Ach so, du meinst Overheadprojektor“, war die Antwort. Als ich nach den großen Papierblättern und der dazugehörigen Staffelei fragte, lernte ich, dass das deutsche Wort für flipchart Flipchart ist. Meine Landsleute streuten nicht nur cool, okay, hip und happy in ihre Sätze; sie hatten obendrein die irritierende Angewohnheit, deutsche Endungen an englische Verben zu hängen. Die Menschen liebten das Fighten, Joggen, Piercen und Skaten. Die Verwendung oder gar Erfindung englischer Wörter, wo es auch ein deutsches getan hätte, war nervenaufreibend. Das cell phone wurde in Handy umgetauft, aus workplace harassment wurde Mobbing. Mob steht in den USA für „Mafia“.
Der film editor war eine Cutterin. Ich musste bei dem Wort jedes Mal an meine sich selbst verstümmelnden jugendlichen Klienten denken. In New York fand ich Trost bei einem sechsundachtzigjährigen Wiener Künstler. Leo Glückselig lebte seit 1940 hoch im Norden Manhattans, in Washington Heights, von jüdischen Emigranten das Vierte Reich, von ihm liebevoll Frankfurt am Hudson genannt. In seiner dunklen, staubigen Fünfzimmerwohnung hatten Bücher alle Zimmer erobert. Es gab zum Bersten vollgestopfte Bücherregale im Wohnzimmer, Schlafzimmer, Esszimmer, auf den Gängen und sogar im Badezimmer. Auch auf dem Fußboden stapelten sich Büchertürme. Ich musste vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzen, denn eine einzige unachtsame Bewegung ließ diese Bastionen europäischen Denkens polternd zusammenbrechen. Stundenlang saß ich inmitten seiner müden Möbel, auf seinem abgewetzten Sofa, hypnotisiert von seiner Sprache. Im Gegensatz zu seinen deutschsprachigen jüdischen Rentnerfreunden, die trotz bester Intentionen Denglisch oder, weil es einfacher war, nur noch Englisch sprachen, redete Leo wie ein bourgeoiser Playboy aus den letzten Tagen der Habsburgermonarchie, ein reines, aristokratisches Deutsch, unberührt von Anglizismen.
Leos charmanter Akzent versetzte mich in das Wien Robert Musils und Arthur Schnitzlers. Kein Mensch in Deutschland sprach noch so. Ich war Ohrenzeuge linguistischer Geschichte. Nichts machte mich glücklicher als seine Bemerkung: „Von Hitler lasse ich mir doch die Liebe zur deutschen Sprache nicht rauben.“ Leo war Welten entfernt von den Deutschen, die ich Downtown bei Vernissagen und Partys traf. Die waren so international, dass sie selbst mit anderen Deutschen Englisch sprachen. Was war los mit meinen Landsleuten? Warum schämten sie sich für ihre Muttersprache? Hatte ich deren Qualitäten erst im Ausland schätzen gelernt?
Englisch ist für mich heute eine leidenschaftliche schnelle Nummer mit einem aufregenden Liebhaber, Deutsch dagegen der vertraute, zarte Liebesakt mit dem Ehemann. Wörter wie „Weltschmerz“, „Promenadenmischung“, „Fernweh“, „Habseligkeiten“ und „mutterseelenallein“ beglücken mich. Ein gutes deutsches Buch erzeugt Wonnegefühle, wie es kein englisches Buch kann. Verliere ich meine Sprache, verliere ich ein Stück Identität. Wenn Deutsch mein Ehemann und Englisch mein Liebhaber ist, so kehre ich nach jeder Eskapade immer zum Deutschen zurück. Ich werde ihm treu bleiben.
ANNA STEEGMANN ist 1954 in Sevelen am Niederrhein geboren und lebt heute in Harlem
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