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„Liebe taz...“ Borttschellers Lieblingsbürger

Betr.: Chaostage

Mein taz-Austräger war eine Zeit lang so nett und hat das Zett-Magazin des Schlachthofs meiner taz beigelegt. Irgendwann habe ich begonnen, regelmäßig darin zu lesen. Wer dies in diesem Monat ebenfalls tut, wird einen Auszug aus einer Bürgerschaftsdebatte vom 8.Juni 1955 entdecken, in der Ralf Borttschellers Vater sich des politischen Instruments der Verächtlichmachung sozial- und lobbymäßig Schwächerer zu seiner Profilierung bedient.

Auch ohne diesen Rückbezug auf seinen Vater kann von Ralf Borttscheller niemand behaupten, seine politischen Abneigungen nicht gekannt zu haben. Bisher waren es zum Beispiel Asylbewerber, ein von ihm als Stricher ausgemachter Schwuler, und jetzt sind es Punks. Daß Borttschellers Lieblingsbürger der sich bedingungslos der CDU-Herrschaft unterwerfende Untertan ist, daran hat er niemals Anlaß zum Zweifel gegeben.

Die SPD hat diese Rolle eingenommen und „basisdemokratisch“ für die Koalition mit der CDU und damit auch für den Innensenator Borttscheller gestimmt. Die Bremer Wahlberechtigten hatten sich für diese Stärke der CDU entschieden. Letztlich hatten bereits die Realo-Grünen in der Ampel-Koalition gezeigt, wie man für die Teilhabe an der Macht Kompromisse schließt, mit denen man sich als politische Alternative diskreditiert. Integrationsfähigkeit zeigen weder Bürgerschaft noch Senat.

Auch die Punk-Szene hat wenig zur Deeskalation beigetragen.In Hannover war kein Festival der Punk-Musik geplant, das die Massen hätte begeistern und die Hysterie der dortigen Polizeiführung vorführen können. Dumpfer Protest gegen den Polizeistaat war angesagt, der dann vor diesem kapitulierte und nach Bremen ausgewichen ist. Derartiger Protest macht es jenen schwer, die ernsthaft Konzepte entwickeln, den Korpsgeist der Polizei zu durchbrechen, und jenen Polizeibeamten ein Weiterkommen sichern wollen, welche Ihre Aufgabe in der Gefahrenabwehr für JEDEN einzelnen Bürger sehen und nicht nur für die bis zu 80 Prozent, deren „Stimmungslage“ Borttscheller zu treffen beabsichtigt. Zwischen einem obersten Dienstherrn Borttscheller und dem unausgegorenen Protest einiger Punks haben es besonnene Polizeibeamte besonders schwer. In Bremen wurde daher am Wochenende nicht der Rechtsstaat verteidigt und auch keine blühende Subkultur plattgewalzt. In Bremen wurde allseitige Konzeptlosigkeit unter Beweis gestellt und Ohnmacht produziert.

Wenn den SPD-Juristen nicht nur an den Mandaten der Opfer des Polizeistaates vom Wochenende gelegen ist, dann mögen sie bitte mit Nachdruck für ein Mißtrauensvotum gegen Ralf Borttscheller streiten. Die Frage, wie welt- und kulturoffen sich die Freie Hansestadt Bremen geben und wen ausgrenzen will, verdient eine Entscheidung des Parlamentes, wenn nicht sogar einen Volksentscheid. Erst bei einem „Platzverweis“ geht Ralf Borttscheller nämlich nach Hause...

Dirk Burchard

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