: Liebe mit Schmerzen
US-Künstler:in Ethel Cain schwelgt auf ihrem neuen Album im qualvollen Southern-Gothic-Sound einer unerfüllten Romanze. Eine auch musikalische überzeugende Absage an den evangelikalen Gender-Mainstream im Land
Von Emilia Papadakis
Die Luft drückt, dicke Gewitterwolken ballen sich über den endlosen, trostlosen Weiten einer staubigen Südstaatenlandschaft – jeden Moment könnte ein Sturm wie in Zeitlupe über die fragile Gothicpop-Musik der US-Künstler:in Ethel Cain hereinbrechen. So unheimlich und zugleich spannungsgeladen klingt „Willoughby Tucker, I’ll Always Love You“, ihr neues Album, das sich langsam, wie ein Film ohne Schnitt, in schmerzlichen Slowcore-Songs und schwebenden Ambient-Instrumentals auflädt und sich dann in wenigen aufbäumenden Pop-Country-Balladen ergießt, eine zeitgemäße Fortführung von Southern-Singer-Songwriterinnen wie Bobbie Gentry.
Hinter dem Pseudonym Ethel Cain steckt die US-Künstler:in Hayden Anhedönia, die eigentlich mal Filme drehen wollte. Stattdessen komponiert sie jetzt Alben, die wie ein Drehbuch aufgefächert sind. Einen ersten Einblick in ihr erzählerisches Universum lieferte ihr 2022 veröffentlichtes und sehr erfolgreiches Debüt „Preachers Daughter“. Darin erzählt sie die Geschichte von Ethel Cain, die als Priestertochter im konservativ christlichen Süden Amerikas aufwächst, missbraucht wird und schließlich von Zuhause wegläuft.
Auch Hayden Anhedönia verbrachte ihre Kindheit in einer baptistischen Gemeinde in Florida und trat aus der Kirche aus, nachdem sie ihre Homosexualität bekannte; inzwischen lebt sie offen als trans Frau. Das neue Album spinnt das von Fans liebevoll getaufte „Ethel Cain Cinematic Universe“ nun weiter, spielt aber fünf Jahre vor Cains tragischem Ende. Als Teenagerin verliebt sie sich in Willoughby Tucker, den sie im sechsminütigen Track „Dust Bowl“ als „Pretty boy / Natural blood-stained blond / And his eyes all over me“ beschreibt.
Cain ist wie besessen von ihm, will ihn um jeden Preis vor den düsteren Dämonen seiner Vergangenheit schützen. Aber selbst die stärkste Liebe reicht in Cains kaputter Welt nicht aus – denn Willoughby ist „consumed by death“.
Wie jede filmreife, tragische jugendliche Liebe beginnt auch diese leise und unschuldig. Im Titelthema „Willoughbys Theme“ spürt man ganz ohne Text jenen schwindelerregenden Rausch anfänglicher Verliebtheit, der nur einen Schritt vom tödlichen Aufprall entfernt ist. Insgesamt drei Instrumentals hat die Künstlerin auf dem Album verteilt. Sie verleihen der Geschichte ihre in Sepia getauchte, verschwommene Kulisse und ziehen immer tiefer in eine Welt, in der sich Raum und Zeit zu quälender Ungewissheit dehnen. Charakteristisch sind die zunächst zarten, minimalistischen Klänge, die sich mit tiefen Bässen und elektronischen Drones zu drängenden Klangmassen verdichten. Im Schnitt sind die Tracks auf dem Album sieben Minuten lang, der letzte und längste dauert zum Finale gar 15 Minuten – perfekt, um sich in Cains Vorstellungswelt zu verlieren.
Bevor die Stimmung so richtig kippt und es ernst um Willoughbys Zustand wird, versetzen flirrende 80s-Synths in „Fuck Me Eyes“ in ein Coming-of-Age-Set. Cain führt einen neuen Charakter ein: das It-Girl ihrer Highschool. „In her mom’s jeans that she cut to really show off her ass“. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Neid, Spott und Bewunderung, denn „She goes to church / Straight from the clubs“. Vielleicht wäre Cain gern mehr wie sie, vielleicht sind die beiden sich aber auch ähnlicher, als gut wäre: „Nowhere to go / She’s just along for the ride“.
Im Track „Nettles“ malt Anhedönia mit zerreißend schönem Streicherarrangement, bodenständiger Banjobegleitung und ihrer samtigen Stimme das Bild eines Krankenhausbetts: „The doctors gave you until the end of the night / But not til daylight“. Was hier noch wie die dunkle Vorahnung auf den Tod wirkt, bestätigt sich dann beim Instrumental „Radio Towers“ durch das monotone Piepen eines Herzmonitors. Cain begreift, dass sie ihren Willoughby nicht retten kann.
„Willoughby Tucker, I’ll Always Love You“ ist keine Musik, die man nur nebenbei hört. Wer dem Gruselfaktor der Southern-Sounds erlegen ist, der tragischen Chronologie und Ethel Cains trauriger Geschichte folgt, wird unweigerlich von einem Albdruck verschluckt. Es ist, als würde man eine endlose Landstraße Richtung Abgrund fahren, schwebend über düsteren, mehrdeutigen Texten und dampfendem Asphalt. Mit jeder Instrumental-Passage dehnt sie sich ins qualvoll Ungewisse. Abbiegen geht leider nicht. Denn wie Cain selbst feststellt: „To love me is to suffer me.“
Ethel Cain: „Willoughby Tucker, I’ll always love you“ (Daughters Of Cain/Awal)
Live: 21. 10. Köln Carlswerk Victoria, 23. 10. Berlin Tempodrom, 24. 10. Hamburg Docks
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