: Liebe gegen das Elend
■ Peter Sellars kommt mit einer Erdbeben-Romanze ins Thalia Theater
Der 1957 geborene Peter Sellars, auch mit fast vierzig noch ewiges „enfant terrible“, ist ein Halbgott des internationalen Regietheaters. Seit den frühen 80ern ist er Einrichter oft unvergeßlicher Theaterabende, die die Grenze zwischen Klassiker-Aufarbeitung und modernem Engagement ganz fließend halten.
Seine neue Inszenierung will nun die Grenze zwischen Engagement und Theater noch dünner halten, ja vielleicht ganz darauf verzichten. I was looking at the ceiling and then I saw the sky nennt sich diese vom ebenfalls US-amerikanischen Minimalisten John Adams mit Musik versehene „Erdbeben-Romanze“.
Auf der Bühne: die Schicksale sieben „junger Leute“ aus dem krisen- und katastrophengeschüttelten Los Angeles – nicht erzählend dargestellt, sondern als lockere Folge von 22 Liedern präsentiert. „Zwischen den Liedern gibt es keine Textpassagen. Und trotzdem erzählen die Songs nach einer Stunde eine Geschichte, einen Zusammenhang“, erklärt Sellars sein Konzept.
Angespielt wird schon im Titel auf das große Erdbeben, das Los Angeles vor einiger Zeit auch nicht läuterte, das hier aber als Kulminationspunkt, als dramatischer Wendepunkt dient. „Aber Ausgangspunkt der Geschichte, die wir erzählen, sind viel eher die unhaltbaren Zustände in der Stadt, die von den Regierenden und der Gesetzgebung zu verantworten sind.“ Etwa ein Gesetzentwurf, nach dem schon jetzt täglich 50 bis 100 Jugendliche in Kalifornien verurteilt werden: Wer zum dritten Mal wegen eines kleinen Vergehens verhaftet wird – und sei es nur, weil jemand ein Stück Pizza geklaut hat – , erhält lebenslänglich. Dies ist eine längst wohl alltägliche Szene im L.A. der post-riot-Ära, in der die Krankenhäuser schließen, weil niemand sie mehr bezahlen kann, und in der Kinder von Einwanderern keine medizinische Hilfe mehr erhalten.
Nach ersten Aufführungen in Nordamerika war die Resonanz auf Sellars' Versuch über eine sich selbst umbringende Gesellschaft eher zwiespältig. „Die Struktur unseres Stückes ist kaum sichtbar. Sie ist sehr komplex, erscheint aber als besonders simpel“, meint der Regiestar, dem diesmal die Abwesenheit jeglicher Regiearbeit vorgeworfen wurde.
„Wir wurden oft gefragt, was dieses Stück sei“, meinte Komponist Adams bei einer Pressekonferenz. „Es ist keine Oper, keine Broadway-Show, kein Singspiel. Das brachte die Kritiker durcheinander.“
Für Sellars ist diese vom Thalia Theater mitproduzierte Wanderproduktion ein Work in Progress. Ab Samstag kann in Hamburg begutachtet werden, ob die Aufhebung der Grenze zwischen Engagement und Theater nun zu Sozialkitsch oder zu einer adäquaten Form für ein kommendes Theater führt. Thomas Plaichinger
Ab Samstag, dem 21. Oktober, 20 Uhr, Thalia-Theater
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