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Liebe, Liberta und Weihnachtssterne

■ Gianna Nannini in der Wahlnacht

In dieser Wahlnacht italienische Musik zu hören, ist zugegeben Flucht vor der Wirklichkeit. Und zuerst geht die Kalkulation auf. Die Dame bringt mich weit weg aus der deutschen Wirklichkeit. Musikalisch kommt Gianna spanisch, asiatisch und afrikanisch daher. Einen Percussionspezialisten hat sie dabei, der mit exotischen Instrumenten für den Ethnoanstrich sorgt. Die Bühne ist mit Bambus dekoriert. Kunterbunt wie im Programm geht es auf einer Leinwand hinter der Band zu. Mal zeigen zwei Projektoren gleichzeitig schöne Dias von Gianna, mal wird sie per Video live abgefilmt. Später erscheinen Weihnachtssterne hinter ihr und ein Mond und Kinderbilder und alles ist ganz schrecklich nett. Dann singt sie von Freiheit (Liberta) und Liebe (Amore) und den Kindern, und ich krieg' Lust zu gehen. Die ersten Feuerzeuge gehen an, bei dem Lied „Ti amo“ besteht das ganze Publikum nur noch aus Pärchen. Langsam merke ich, daß die meisten Besucher über dreißig sind, und die Anzahl der Brillenträger ist ungewöhnlich hoch. Richtige Stimmung kommt nicht auf, die Stadthalle ist nur zu zwei Dritteln voll. Der Drummer, der zu viel Bodybuilding gemacht hat, quält sein Instrument und ist so laut, daß man Gianna kaum noch hört; schlechte Anlage oder schlechte Akustik oder beides kommt dazu. Es ist zwanzig vor zehn und auf der Leinwand hinter der italienischen Rockröhre erscheinen Sterne, die wie das Europazeichen aussehen. Gianna greift jetzt zur Geige und ist noch schlimmer als der Drummer mit dem Schlagzeug. Sie legt die Geige weg und zieht ein Stirnband an, sie zieht eine graue Kutte an, sie wechselt ihr dunkles Hemd gegen ein weißes. Es ist fünf vor zehn — das Konzert ist in vollem Gange, und ich gehe. Im Auto Nachrichten. „Der eindeutige Wahlsieger ist die Koalition.“ Wer regiert eigentlich zur Zeit in Italien? Das Radio spielt Gianna Nanninis „Liberta“. Wolfram Steinberg

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