Libyen kommt nicht zur Ruhe: Tripolis ist weit weg
In Kleinstädten wie Sintan kämpfen Revolutionäre gegen Anhänger des alten Regimes. Der Regierung trauen sie nicht und wollen Saif al-Islam den Prozess machen.
SINTAN taz | Die flache Hochebene der Nafusa-Berge wirkt öde. Gras und Steinfelder, so weit das Auge reicht, dazwischen verschlafene Dörfer. Bei 40 Grad Mittagshitze sitzen die älteren Männer von Jadu vor der Moschee zusammen und führen eine ernste Diskussion. Ihre Söhne stehen an den zahlreichen Kontrollpunkten in der Umgebung. Freundlich und mit entsicherter Waffe kontrollieren die jungen Revolutionäre Tag und Nacht Autos und alle Fremden.
Knapp dreißig Kilometer weiter, am letzten Checkpoint vor Sintan, ist die Spannung plötzlich greifbar. Ein Dutzend Bewaffneter aus Sintan, arabische Libyer, versucht, eine erregte Menge aus Jadu gleichzeitig zu beruhigen und auch aufzuhalten. Es wird laut gestritten, die jungen Uniformierten fuchteln nervös mit ihren Kalaschnikows herum. „Wir sind mit eurem Scheich in der Moschee zum Verhandeln verabredet“, sagt ein Delegierter aus Jadu, „wenn ihr uns nicht durchlasst, gibt es Krieg.“
Das kann schnell passieren. In den vergangenen Tagen gab es 19 Tote und 90 Verletzte bei Auseinandersetzungen zwischen Gaddafi-Anhängern aus dem Ort Chgiga und Revolutionären aus Sintan. Jetzt vergiftet auch noch der Mord eines Sintani an einem Kommandeur aus Jadu die Stimmung zwischen den Berbern und arabischen Libyern.
Einer der Orte, wo die Zeit stehenblieb
Sintan ist ein langgestreckter, staubiger und heruntergekommener Ort, der aussieht, als sei die Zeit schon vor Jahren stehen geblieben. Nichts ist zu sehen von den Baukränen und Neubauprojekten, die im 250 Kilometer nördlich gelegenen Tripolis an jeder Ecke stehen. „Die Lage in Chgiga ist schlimm, heute gab es wieder einige Tote“, sagt Salama. Er unterbricht seinen Satz wegen der Sirenen der Krankenwagen, die in die Stadt fahren.
„Wir haben drei Gaddafi-Anhänger in Chgiga festgenommen, aber wurden sofort beschossen. Außerdem wollen wir unsere Farmen zurück. Die hat uns das Regime weggenommen und an Loyalisten aus Chgiga verteilt“, sagt Ingenieur Salama im fast leeren Medienzentrum.
Überall in Libyen herrscht Misstrauen zwischen Gemeinden wie Sintan, Chgiga und Jadu, ein Erbe der Politik des alten Regimes nach dem Prinzip „Teile und herrsche“. Gaddafi erkaufte sich Loyalität mit Bevorzugung gewisser Gemeinden, die nun die Verlierer der Revolution sind.
Vermummte Revolutionäre in Jeeps
In Sintan herrscht wieder offener Krieg, die Armee hat die Nafusa-Berge zum militärischen Sperrgebiet erklärt und Posten aufgestellt. Mit Tüchern und Motorradbrillen vermummte Revolutionäre in offenen Jeeps donnern über die staubigen Straßen.
„Ich überlasse es lieber anderen, über Saif al-Islam zu sprechen, mich interessiert das Thema nicht“, sagt der Aktivist Mohammed. Mit seinen Freunden veröffentlicht er seit dem ersten Tag der Revolution die Zeitung Intifada (dt. Widerstand). „Für den Angriff auf Bengasi verlangte Gaddafi 1.000 junge Männer von unseren Dorfältesten. Wir haben ihre Entscheidung gar nicht erst abgewartet und nach einer Straßenschlacht die Geheimpolizei aus Sintan vertrieben. Seitdem vertrauen wir niemandem mehr, auch nicht den neuen Politikern in Tripolis.“
Neben dem ausgebrannten Polizeigebäude steht das frisch renovierte Gericht, in dem Saif al-Islam al-Gaddafi nach dem Willen der Sintanis verurteilt werden soll. Viele Libyer fordern die Todesstrafe für den ehemals als Nachfolger seines Vaters Muammar auserkorenen Gefangenen. In das politische Chaos nach Tripolis wollen die Revolutionäre ihn nicht bringen. „Dort wird er mit irgendwelchen Tricks entkommen“, hört man einhellig in einem Café.
Misstrauen gegen die Politik in der Hauptstadt bestimmt immer schon das Handeln der jetzt zahlreichen Sintan-Brigaden. Sie haben das südlich gelegene Waffendepot der ehemaligen Gaddafi-Truppen übernommen und verstehen sich als Beschützer der Revolution gegen die überall im Land wieder aktiver werdenden Anhänger des gestürzten Regimes. Jobs gibt es in Sintan nur wenige und so sind die Jugendlichen lieber Mitglied einer Brigade als arbeitslos.
Mit dem Gefangenen Saif al-Islam ist die Weltpolitik in Sintan eingezogen und nun führt die wehrhafte Kleinstadt in den Bergen die machtlose Übergangsregierung in Tripolis vor.
Die Pflichtverteidigerin des Internationalen Strafgerichtshofs Melinda Taylor soll bei ihrem Gespräch mit Saif al-Islam einen Stift mit einer integrierten Kamera und einen Brief von dessen einstigem Vertrauten Mohammed Ismail bei sich gehabt haben, der von der libyschen Justiz gesucht wird. Sie wurde zusammen mit drei Mitarbeitern inhaftiert. „Alles wurde gefilmt“, bekräftigt Salama im Medienzentrum. „Wir werden die Angelegenheit aufklären, es steht hier schließlich der Ruf Sintans und der Revolution auf dem Spiel.“ Er hat plötzlich tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten