Letzter Roman des US-Autors William Gass: Das große Lamento

Der US-Schriftsteller William Gass ist gestorben. Zuletzt erschien von ihm der passende Roman zum Hass der Rechtspopulisten: „Mittellage“.

Ein Seeadler mit offenem Schnabel

Irgendeiner lamentiert ja immer: Seeadler Foto: Photocase / noise-fotografie

AfD und Pegida verbreiten Hass gegen „Gutmenschen“ und mischen Groll in den Alltag. Der Front National spielt auf der Klaviatur der Angst vor dem Islam und schürt die Wut auf ein humanes Leben für alle. Donald Trump und seine Stammwählerschaft haben liberale Amerikaner im Wahlkampf mit ätzender Verachtung überzogen.

Amerika und Europa haben dieser Tage ausnahmsweise mal mehr gemeinsam als die Mitgliedschaft in der Nato; die Suche nach verbalen und handelnden Strategien gegen den Diskurs der neuen Rechten hält an, gute Antworten wurden bislang nur selten gefunden. Was tun? Vielleicht hilft ein Blick in die Literatur.

William Gass, ein bedeutender Autor der US-Literatur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, ist am 6. Dezember 2017 im Alter von 93 Jahren in University City gestorben. Neben seinem literarischen Schaffen war er als Hochschullehrer für Philosophie tätig.

Dieser Text über seinen letzten, ins Deutsche übersetzten Roman "Mittellage" erschien im November 2016 in der taz. Aus aktuellem Anlass publizieren wir ihn noch einmal auf taz.de.

William H. Gass: „Mittellage“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2016, 605 Seiten, 29,95 Euro

Verachtung, Wut, Groll und Hass, dazu gern noch eine große Prise Grobheit und eine Schubkarre voll Brutalität – wer versteht sich besser auf die Menschenverachtung als der gute alte Misanthrop?

William H. Gass, US-Schriftsteller und emeritierter Professor für Literaturwissenschaft, hat in seinem neuen Roman „Mittellage“ einen mustergültigen Misanthropen geschaffen. Sein Protagonist heißt Joseph Skizzen, auch Joey genannt, lebt irgendwo im Bundesstaat Ohio frau- und kinderlos mit seiner Mutter zusammen und unterrichtet als Musikprofessor an einem mittelmäßigen Kleinstadtcollege.

Skizzen ist ein Betrüger und Hochstapler: Auf gefälschten Unterlagen gründet seine College-Anstellung, eine getrimmte Biografie weist ihn als Kenner der Zwölftonmusik aus. Und seine Angst, enttarnt zu werden, macht ihn darüber hinaus zu einem angepassten Heuchler, der dennoch nie den richtigen Ton trifft – weder in der Musik noch im Alltag.

Willkommen im „Museum der Unmenschlichkeit“

Während seine Mutter Pflanzen sät und pflegt und sich dem Leben im Garten zuwendet, sammelt Skizzen Zeitungsartikel über die menschliche Grausamkeit. In einem eigens eingerichteten Archivraum für Massaker entsteht sein „Museum der Unmenschlichkeit“.

Und noch eine Sammlung gehört zu Skizzen, es sind über hundert Klageaphorismen zur Niedertracht des Menschengeschlechts, die ein Skelett der Handlung im Roman bilden: „Die Angst, dass die Menschheit vielleicht nicht überlebt, ist von der Angst ersetzt worden, dass sie bestehen bleibt“, formuliert der Musiklehrer am Anfang. Später muss sich jeder misanthropische Aphorismus biegen lassen, bis er perfekt zu jener Musik passt, „die auf zwölf Tönen basierte“.

Gass ist ein Spezialist für literarische Misanthropie. Bereits in seinem Roman „Der Tunnel“ (1995, auf Deutsch 2011) verbreitete seine Hauptfigur, der Historiker William Kohler, viel Hass auf die Menschheit im Allgemeinen und seine Ehefrau sowie diverse Kollegen im Speziellen. Die Figur Kohlers – ein germanophiler „Faschist des Herzens“ und Fantasieführer der rassistischen Partei der Enttäuschten – war eine Einladung an den Leser, sich auf die Worte, Abgründe, Gehässigkeiten und Enttäuschungen der Figur einzulassen und so während der Lektüre der knapp 1.100 Seiten selbst zum Nazi zu werden, genauer: zum Nachfühlnazi.

Feldwebel im Blumenbeet

„Der Tunnel“ und das neue Werk „Mittellage“ haben einige Gemeinsamkeiten. Neben der Misanthropie einen weitgehend isolierten weißen Mann als Protagonisten, in beiden Fällen Collegelehrer, ländliche Regionen der USA als Handlungsorte, die späte Mitte des 20. Jahrhunderts als Zeit der Romane und amerikanisch-zentraleuropäische Verbindungen bei der Interpretation der Welt, wie sie seine Hauptfiguren vornehmen.

Der mittlerweile über 90-jährige Gass nennt sich einen „spätmodernen“ Autor, sein Stil ist philosophisch-analytisch statt postmodern-poppig; Heidegger, Hegel, Nietzsche, Kierkegaard und Schopenhauer sind stets zugegen, wenn Kohler oder Skizzen oder Miss Moss – eine Nebenfigur in „Mittellage“, die nur aus „Angst und Argwohn“ besteht und als „Schatten, der finstere Gedanken über seinen Ursprung hat“, charakterisiert wird – wieder einmal ihr Lamento über die Weltenläufte beginnen.

„Mittellage“ ist ein Buch des Lamentos. Jeder und jede lamentiert ständig über den anderen oder die andere, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind allesamt Zeiten, über die es sich zu beschweren lohnt. Wenn Skizzens Mutter sich ihren Pflanzen zuwendet, „war sie ein Feldwebel, und ihre Blumen wussten, dass sie Haltung annehmen und grüßen mussten, wenn sie vorbeikam“. Über den Garten sagt Joey, er „gleiche einem faschistischen Staat; geleitet wie ein Orchester, geordnet wie eine Armee, eugenisch erbarmungslos und hasserfüllt gegenüber den Behinderten, unerbittlich in der Verfolgung seiner Feinde [. . .].“

Eine Bibliothekarin sagt: „Niemand hat härter gearbeitet als ich, um es zu nichts zu bringen.“

Eine Bibliothekarin sagt: „Niemand hat härter gearbeitet als ich, um es zu nichts zu bringen.“ Ein Schulleiter meint: „Alle Religionen sind eben nicht gleich erschaffen. Alle bis auf unsere sind schmutzig.“ Über eine Kleinstadt heißt es: „Kriminelle sind zu schlau, um in Urichstown zu wohnen. Wir züchten welche, aber sie ziehen weg.“ Skizzen ist es schließlich, der die Ursache des Lamentos offenlegt: „An all unseren Herzen hängt BITTE NICHT STÖREN“.

Grausame Dialektik der Borniertheit

Die Misanthropie, die Gass seinem Romanpersonal mitgibt, ist eine, die sich aus dem Mangel an Vorstellungskraft speist, wie es anders werden könnte. Zugleich gibt sie aber zu wissen vor, dass es nicht anders werden kann und nie wird. Gass’ Misanthropen sagen: Alle sind daran schuldig und damit widersprechen sie vehement den rechten Misanthropen der politischen Gegenwart, die sagen: Ihr alle seid schuldig, wir aber nicht.

Die Gesellschaft, die rechte Misanthropen der Gegenwart gerne hätten, sähe trotzdem wohl exakt so aus wie der Alltag in jenen Dörfern und Kleinstädten, die den Misanthropen Skizzen erst hervorgebracht haben – was für eine grausame Dialektik der Borniertheit, was für eine endlose Abfolge an Kleingeistigkeit und Herrenmentalität. Lebte Schopenhauer noch, er könnte an dieser Stelle endlos Material für neue Studien entdecken.

US-Rezensenten haben darauf hingewiesen, dass die Romanstruktur von „Mittellage“ einem Konzert ähnele, in dem der Protagonist Skizzen nacheinander drei Soloinstrumente spiele und dabei jedes Mal in Konkurrenz zum Orchester trete. Wenn dieser Hinweis stimmt und das gemeinsame Musizieren aus raffinierten Wechseln von zeitweise unabhängigen Solisten und ihrer Teilhabe am Spiel des Ensembles besteht, so findet Skizzen dort zwar seinen Raum, das perfekte Wechselspiel, das musikalische Freiheit erzeugt, bleibt ihm jedoch fremd.

Wofür Sellerie berühmt ist

Gass hat seinem riesigen Konvolut aus Menschenhasstiraden also keine Synthese aus Kultur (Skizzens Musik) und Natur (Mutter Skizzens Garten) beigegeben. Kultur und Natur treffen aufeinander, sie bedingen einander nicht, bleiben einander fremd, nichts Neues entsteht aus dieser Begegnung. Es ist etwas anderes, Unerwartetes, was die Misanthropie bricht und aus „Mittellage“ ein zutiefst humanes Werk macht: Humor.

Im Garten hält sich Skizzens Mutter mal wieder „die Hände vor die Augen, damit sie die Welt schlechter und die Vergangenheit besser sah“, und Skizzen steigt umgehend ein in den Überbietungswettbewerb, wer die Welt am dunkelsten zeichnen kann. Am Ende ist es die Mutter, die den Essenzialismus des alten und neuen Hasses (das ist „unsere Natur“) mit dem Pragmatismus der realen Natur auskontert: „Sellerie ist jedenfalls berühmt dafür, dass er Sellerie ist.“

Gleiches kann man von der Misanthropie sagen, der Gass’ „Mittellage“ ein seltsam schräges und musikalisch umwehtes Denkmal setzt. Wenn man nahe genug rangeht, meint man inmitten all des Neids, der Kleinlichkeit und Tücke, der Grausamkeit und Gier, der Lügen und Abgeschmacktheit, der schiefen Töne und zerstörerischen Synkopen ein leises Kichern zu vernehmen.

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